Der Kaefig - Roman
»Aufstehen.«
Er half ihr, indem er ihren Arm verdrehte.
»Du Schwein!«, schrie sie. »Schwanzlutscher!«
»Halt die Klappe, Mable.«
»Wichs…« Sie jaulte vor Schmerz auf, als er ihren Arm ein wenig weiter verbog.
»Klappe, hab ich gesagt.«
Mit Hilfe des Armhebels steuerte er sie zur Tür. »Ich will keinen Ärger mehr mit dir, kapiert? Ich will, dass du nach Hause gehst.«
»Nein, ich will …«
»Ich möchte, dass du nach Hause gehst und nie mehr eine derartige Nummer abziehst. Weißt du, was ich tun werde, wenn du Susan oder mich nochmal belästigst? «
»Was?«
»Ich sag’s deiner Mutter.«
Ihr Kopf ruckte zur Seite, und sie funkelte ihn an. »Das lässt du lieber.«
»Doch, das mache ich.«
»Lass es lieber«, wiederholte sie, dieses Mal ängstlich.
»Entweder bist du ab jetzt ein braves Mädchen, oder ich geh zu deiner Mutter.«
»Ich wollte doch nur nett zu dir sein. Das war alles. Was ist falsch daran?«
»Die Art, wie du es angepackt hast. Ich lass dich jetzt los, und du ziehst dich an und gehst sofort nach Hause. Okay?«
»Na gut.« Ihre geschwollenen Lippen verzogen sich zu einem Schmollmund.
Er ließ ihren Arm los. Sie lehnte schwer an der Tür, ihre Arme baumelten an den Seiten herab, der Kopf hing nach unten, das wirre Haar bedeckte ihre Augen. Tag drehte sich um. Er hob ihr Kleid auf, reichte es ihr und wandte das Gesicht ab, als sie es über den Kopf zog. Dann öffnete er die Tür.
Er sah zu, wie sie langsam den Flur entlangging. Vor dreißig Jahren war sie vielleicht ein süßes Mädchen gewesen. Nett. Freundlich. Höflich in der Schule. Nachts hatte sie ihre Mutter mit jedem Typen, der ein paar Dollar übrig hatte, im Nebenzimmer rummachen hören. Es war schwierig, sich anständig zu entwickeln … geistig gesund zu bleiben … bei so einer Kindheit. »Wiedersehen, Mable. Pass auf dich auf, ja?«
Sie blickte über die Schulter zurück. Tag sah Tränen auf ihrem Gesicht. Sie schniefte laut, wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab und wandte sich traurig ab.
Tag machte die Tür zu und schloss sie ab.
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr.
Zu spät, um zu dem verdammten Kurs zu gehen.
Er war müde, fühlte sich angeschlagen und schmutzig … als wäre etwas seit dreißig Jahren Totes gerade über sein Gesicht gekrochen. Er ging ins Bad und drehte die Dusche auf. Als das Wasser kochend heiß war, stieg er hinein und hielt das Gesicht unter den prasselnden Strahl.
3
April Vallsarra hatte die Hände auf die Steinbalustrade gelegt und genoss nach der Hitze des Tages die erfrischende Brise, die um ihre Wangen spielte.
Sie liebte es, nachts dort zu stehen. Die Luft war kühl. Sie mochte das Zirpen der Grillen. Der Duft der Wildblumen wehte aus dem Wald herüber, erfüllte und beruhigte sie.
Sie lauschte der Musik der Bäume in den Luftströmungen im Canyon. Das anschwellende Zischen, das schon bald wieder zu einem Flüstern würde. Es erinnerte sie an die Zeit, als sie mit ihrem Vater im Strandhaus gewohnt hatte. Das Geräusch der Brandung. Besonders nachts, wenn sie warm und geborgen im Bett gelegen hatte und die Wellen den Strand überspült hatten.
Sie stand da und lauschte den Geräuschen der Außenwelt. Der Wind wehte über die Dachterrasse, wirbelte um ihre nackten Fußgelenke und Waden, zog an ihrem Kleid und ihrem Haar.
Oft versuchte sie sich vorzustellen, wie diese Bäume aussahen. Sie stellte sich vor, dass sie sich bewegten wie Elefantenherden. Das hatte sie wenigstens gehört. Natürlich würde sie es nie genau wissen. Sie war blind zur Welt gekommen. Mit sechs Jahren hatte sie von zu Hause weggehen müssen, um eine Blindenschule in San Francisco zu besuchen. Damals war ihre Welt aus den Fugen
geraten. Die Ehe ihrer Eltern war zerbrochen. Ihre Mutter zog nach Kanada, und sie hörte nie wieder etwas von ihr.
Sie war so unglücklich in der Schule, dass sie im Alter von elf Jahren versuchte, sich das Leben zu nehmen. Aus einer Strumpfhose knüpfte sie eine Schlinge, knotete sie an die Duschstange und sprang vom Rand der Badewanne. Die Stange hielt ihr Gewicht nicht und riss ab. April fiel auf den Badezimmerboden und brach sich das Handgelenk.
Ihr Vater rettete sie.
Nach einem langen Gespräch im Krankenhaus, während sie darauf wartete, dass ihr Arm gegipst wurde, wurde ihm klar, wie unglücklich sie in der Schule war.
Er nahm sie mit nach Hause.
Aber er wohnte nicht mehr im Strandhaus.
Das neue Haus lag hier im Canyon. Es stand an einem der
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