Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)
geschlossenen Augen auf ihrem Stuhl.
Hatte ich ein paar Francs, trug ich sie ins Café an der Place de Longchamp, einen Häuserblock von meiner Pension entfernt, wo ich ein Glas Beaujolais und einen Teller grüne Bohnen in Vinaigrette für umgerechnet fünfzehn Cent bestellte. Zur Mittagszeit sah ich durch die großen, sauberen Fenster Menschen über die Straßen und Bürgersteige schlendern, lange, schmale Baguettes unterm Arm. Ein Ende des Brotes fehlte immer, war von den Käufern gleich abgebissen und aufgegessen worden, weil sie dem frischen Duft und Geschmack nicht widerstehen konnten. Vielleicht war es auch nur eine Pariser Angewohnheit.
Alle paar Tage schickte ich mit der Post eine Geschichte an die Londoner Agentur. Deren Budget reichte nicht für Telefonate, hatte Sir Andrew mir mitgeteilt. Spesen würden mir nur in Notfällen erstattet, die er nicht näher spezifizierte. Der Inhalt meiner Geschichten jedenfalls war eher pittoresk als berichtenswert.
Als ich den Arbeitsattaché der amerikanischen Botschaft, eine meiner Quellen für Hintergrundnachrichten, das erste Mal besuchte, blendete mich die Helligkeit der Sonnenstrahlen, die durch die Fenster hinter seinem Schreibtisch fielen. Das Gegenlicht ließ alles davor, auch den Attaché selbst, im Schatten versinken. Erst als er in den hinteren Teil des Büros eilte, konnte ich ihn sehen. Er war groß, schlaksig und nicht mehr ganz jung, schätzte ich. Aus den Tiefen eines Aktenschrankes zog er eine Schachtel Zigaretten hervor, die er mit zum Schreibtisch brachte. Er reichte mir die Schachtel und sagte gleichzeitig: «Guten Morgen».
Zigaretten waren im Jahr 1946 so wertvoll wie Geld. Man konnte ein paar davon rauchen und den Rest auf dem blühenden Schwarzmarkt umsetzen.
Von der langweiligen Unterhaltung erinnere ich mich nur noch an seine Einladung, ihn und ein paar Freunde am nächsten Wochenende auf einen Ausflug nach Südfrankreich zu begleiten.
Nein danke, lautete meine Antwort, obwohl der Klang der Ortsnamen und Landschaften, die er besuchen wollte, mich lockte: das Rhônetal, Saint-Emilion, Saint-Rémy, Arles, die Camargue. Ein paar Tage später traf und interviewte ich einen korsischen Politiker, dessen Taten in der Résistance in einem Comicstrip gefeiert wurden, der an allen Kiosken verkauft wurde. Er hieß Jean-Claude, war groß und dünn, hatte dunkle Haare, eine düstere Miene und war Anfang dreißig.
Wir verliebten uns. In den letzten Kriegsmonaten war seine Frau, im siebten Monat schwanger, von der Gestapo festgenommen worden. Um seinen Aufenthaltsort zu erfahren, verprügelte man sie am ganzen Leib mit Gummiknüppeln. Sie wurde schließlich wieder entlassen, obwohl sie nichts verraten hatte. Das Baby, ein Junge, wurde ohne bleibenden Schaden geboren.
Im Schatten ihrer Treue und ihres ungeheuren Heldenmutes hatten wir einander nicht viel zu sagen. Es gab keine Zukunft, nur Vergangenheit. Wir erzählten einander unsere Lebensgeschichten, während wir mit der Metro kreuz und quer unter Paris herumfuhren. Manchmal rauchte er die englischen Zigaretten, die er dem starken französischen Tabak vorzog. Wir trafen uns zu eigenwilligen Zeiten in kleinen, dunklen Bistros, wo wir sauren Rotwein tranken. Wir liebten uns hastig und heftig in dunklen Hinterhöfen, doch die Tapferkeit seiner Frau ließ sich nie ganz aus unseren Gedanken verbannen. Einmal sah uns jemand, als wir uns an einer Wand umschlangen. Aus seinem Fenster im dritten Stock rief ein stämmiger älterer Mann: « Honteux! » Ich weinte vor Scham. Jean-Claude versuchte, mich zu trösten. Es war alles so hoffnungslos.
Er mußte für eine Woche nach Korsika zurück. An dem Abend, an dem er mir von der Fahrt erzählte und meine Hand packte, schienen unsere Körper eine Sekunde eher als wir selbst zu wissen, daß wir einander nie wiedersehen würden. Wir zogen unsere Hände zurück. In dem gegenseitigen Einvernehmen, das unsere Beziehung von Anfang an gekennzeichnet hatte, trennten wir uns vor dem Café, in dem wir uns kennengelernt hatten, und als wir im Licht der Straßenlampen auseinandergingen, sahen wir uns beide im gleichen Augenblick um. Sein Gesicht lag im Schatten, wie meines sicherlich auch, wie unsere Gesichter in der Erinnerung bleiben würden. Und neben der bitteren Reue, die ich beinahe schmecken konnte, spürte ich unerwartete Erleichterung, wie oft nach intensiven Gefühlen – ein kleiner Tod, eine Erinnerung daran, daß man letztlich allein ist.
Eines Abends holte
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