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Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)

Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)

Titel: Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paula Fox
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sich von dort nach Paris und zur Friedenskonferenz durchgeschlagen hatte und schließlich in diesem Zug gelandet war, konnte Nick mir nicht erklären.
    Die erste Nacht verbrachten wir in La Mère Poularde, einem Gasthof mit Restaurant an der Hauptstraße von Mont-Saint-Michel. Spezialität des Restaurants waren scheinbar unzählige Varianten von Pfannkuchen, die über offenem Feuer in einem langen Steintrog gebacken wurden. Die Küche war ebenso groß wie die Gaststube, sah jedoch viel mehr nach sechzehntem Jahrhundert aus. Verstärkt wurde dieser Eindruck durch das lange Kleid und das Kopftuch der Köchin, beides aus Musselin, und die mächtige Holztür hinter ihr mit ihren schweren, prachtvollen Eisenbeschlägen. In der Gaststube standen mehrere Tische, auf jedem eine Kerze in einem Glas; hinter einer gläsernen Wand waren zwei dicke, lebende, belaubte Bäume zu sehen.
    Nick saß mir gegenüber und erzählte von einem Mann, der zum Flughafen von New Jersey gekommen war, sich eine Startbahn ausgesucht hatte und mit wedelnden Armen darauf entlanggelaufen war. Er wollte zur Friedenskonferenz nach Paris fliegen, wo er den Delegierten einige strenge Worte zu sagen beabsichtigte. Alle des Englischen Mächtigen lachten, abgesehen von dem jungen Faschisten und von Schukows Sohn, die beide stetig weiteraßen, ohne aufzusehen.
    Meine Gedanken schweiften zu der Straße, die sich draußen wie ein Nautilusgehäuse hinauf zur Abtei aus dem achten Jahrhundert wand, die wir am Tag besichtigt hatten. Ich war an einer Oubliette vorbeigekommen, einem Verlies im Erdboden. Unkraut wuchs durch das Eisengitter. Die Gefangenen hatten darin kauern müssen; die Vorstellung war entsetzlich, und wenn ich an weiches menschliches Fleisch dachte, das jahrelang in ein so enges Loch gestopft wurde, überfiel mich einen Augenblick lang Klaustrophobie.
    Der Eingang zu der festungsartigen Abtei war in Dunkel gehüllt gewesen. Ich hatte am großen Tor gestanden und die Besucher beobachtet, die sich mit vorsichtigen Schritten hineinwagten, so wie ich es auch bei den Einheimischen gesehen hatte. Die Franzosen, die in Mont-Saint-Michel lebten, sammelten Seetang im Watt und hatten über Generationen hinweg gelernt, den gefährlichen Treibsandstellen auszuweichen, für die dieser Küstenabschnitt berüchtigt war.
    Nach dem Abendessen machte ich mich wieder auf den Weg hinauf zur Abtei. Als ich an der massiven, von einem Kirchturm gekrönten Festung ankam, merkte ich, daß der ungarische Junge ein paar Schritte hinter mir ging. Ich drehte mich zu ihm um. Er stand unbewegt, mit gesenktem Kopf, die Hände in den Hosentaschen. Ich ging bis zum blanken Felsen, und er folgte mir, hielt immer den gleichen Abstand. Ich sah, wie sein zerrissener Hemdkragen gegen seine Wange wehte. Er fing an, in seinem holprigen Französisch zu reden, nicht mit mir, sondern in meine Richtung. Aus dem, was der Wind von seinen Worten übrigließ, konnte ich entnehmen, daß er über sein kurzes bisheriges Leben sprach, und die Erregung in seiner Stimme wurde noch verstärkt, so nahm ich an, durch den Wind und unsere große Höhe, durch das Sternenlicht, das weit unten auf der Meeresoberfläche glitzerte.

    Er sprach nicht über Juden, Zigeuner oder Homosexuelle, nur von den Hinrichtungen, die er miterlebt hatte, als seien sie seine romantischen Erlebnisse; aber jetzt war das alles vorbei, und er konnte nirgendwo hin, nirgendwo sein. Es war ihm egal, was mit ihm geschah. Wegen seines verhungerten Aussehens und wegen seiner Jugend tat er mir leid. Aber ich haßte ihn auch. Als er schwieg, ging ich weg, die lange, gewundene Straße hinunter, zurück zum Gasthaus.

    Als wir in die kleinen Busse stiegen, die uns zum Festland zurückbringen sollten, wo unser Zug auf uns wartete, herrschte Ebbe.
    In Saint-Malo gab der Bürgermeister für uns einen Nachmittagsempfang in einer kleinen Villa auf einem Hügel am Meer. Am Strand erhob sich eine Blockhütte der Deutschen, und ich stand ein paar Minuten darin und starrte die Wand an. Sie war mit deutschen und französischen Kritzeleien bedeckt. Eine leere blaue Packung Gauloises lag zerknüllt auf dem Zementboden, zwischen dem Treibgut, das die Flut zurückgelassen hatte.
    Vom Seewind und von fremden Erinnerungen, die sich vermutlich aus Kriegsfilmen speisten, bis auf die Knochen durchgefroren, kehrte ich zur Villa zurück, wo ein Mann im Schatten der vom salzigen Wind schwer gezeichneten Hecke auf mich wartete.
    «Da ist jemand, der gern mit Ihnen

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