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Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)

Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)

Titel: Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paula Fox
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mich ein Mann mit dem Auto in der Pension ab, den ich gemeinsam mit seiner Frau für die Agentur interviewt hatte, um mich zum Abendessen in ihrer Wohnung im Marais zu fahren. Der Verkehr war spärlich. Beim Fahren erzählte er mir, die Schaflederjacke, die er trage, habe ihn drei Jahre lang im Konzentrationslager gewärmt. Sie war an beiden Ellbogen durchgescheuert und wirkte auf mich wie der braune Kadaver eines Tieres, das vergeblich um sein Leben gekämpft hatte.
    Er war weder vergast worden, noch mußte er sich zu Tode arbeiten. Er war Arzt und daher der Lagerleitung von Nutzen. Als er das Wort «Lagerleitung» aussprach, glaubte ich, im Licht der Armaturen einen Augenblick sein Lagergesicht zu sehen. Dann setzte er seine freundliche Miene wieder auf.
    Die große, gutbürgerliche Wohnung ging auf einen schattigen Innenhof hinaus. Das Abendessen bestand aus zahlreichen Gängen, vielleicht um die winzigen Portionen auszugleichen. Das Ende jedoch war unerwartet üppig: ein großer Laib Roquefort, von dem die Gastgeberin dünne Scheiben abschnitt. Seine blau geäderte Schnittfläche erinnerte an Stadtpläne.
    Irgendwann kam das Gespräch auf les mutilés – «die Verstümmelten». Erstaunt erfuhr ich, daß dieses Wort im Französischen Kriegsversehrte bezeichnete. «Verstümmelt» klingt viel stärker nach bösartigem Vorsatz, nach angewandter Brutalität und Folter. Obwohl der Krieg schon vor einem Jahr zu Ende gegangen war, brachten die Züge immer noch Verwundete nach Paris zurück. Nach jenem Abend hielt ich Ausschau nach Soldaten mit Krücken, Schienen oder Verbänden um den Kopf wie einen Turban. Einige Tage lang wollte die englische Bedeutung des Wortes der französischen nicht weichen.
    Nicht lange nach dem Abendessen im Marais mußte ich ein Taxi irgendwohin nehmen. Als der Fahrer merkte, daß ich Amerikanerin war, erzählte er mir mit lebhafter Stimme zwei Geschichten. Grosses enfants nannte er die amerikanischen Soldaten, die kurz nach dem Krieg in Frankreich stationiert waren, bevor er schilderte, wie sie aus ihren Jeeps Handgranaten auf Scheunen und Bauernhäuser schleuderten, während sie ziellos durch das französische Hinterland fuhren, ohne einen Gedanken an die darin Lebenden zu verschwenden. Vielleicht spürte er meinen Unglauben, denn er milderte seine Erzählung durch den Zusatz, daß die Soldaten die Bauernhöfe wahrscheinlich für verlassen hielten.
    Die zweite Geschichte drehte sich um einen amerikanischen Bergsteiger, der in den Alpen in Bergnot geriet. Die Armee der Vereinigten Staaten schickte einen ganzen Zug voller GIs zum Fuß des Berges, inklusive Speisewagen und medizinischem Stab. Inzwischen war ein einzelner Schweizer Bergsteiger hinaufgestiegen, hatte den Amerikaner gerettet und in Sicherheit gebracht.

    Anfang November wurden einige Journalisten, darunter auch ich, für eine Zugfahrt an die französische Nordwestküste ausgewählt. Wir sollten eine Nacht auf dem Mont-Saint-Michel verbringen, dann nach Süden, nach Saint-Malo und Dinan, weiterreisen. Die französische Regierung übernahm sämtliche Kosten.
    Wir waren ungefähr ein Dutzend, die in den einzigen Waggon des Zuges stiegen. Auf der hinteren Plattform stapelten sich die Champagnerkisten und klapperten, als wir aus dem Bahnhof fuhren. An Bord waren drei Russen, von denen zwei einen dritten bewachten, den Sohn des Marschalls Schukow, der die Deutschen in Stalingrad besiegt und 1944 die Belagerung von Leningrad durchbrochen hatte. Der Sohn war groß und unscheinbar. Er hatte eine khakifarbene Haut, und wenn sich unsere Blicke trafen, grinste er jedesmal breit und winkte, selbst wenn ich ganz in der Nähe saß. Es sah seltsam aus, wie sich die Finger seiner großen Hand krümmten, sein Uniformärmel jedoch steif und unbeweglich blieb, als wäre er aus Beton.
    Ein paar Amerikaner waren ebenfalls an Bord, darunter Nick, ein Korrespondent von United Press , mit dem ich mich angefreundet hatte, außerdem ein Junge von etwa neunzehn Jahren, dessen Hose, wie ich bemerkte, von einer großen Sicherheitsnadel zusammengehalten wurde. Seine Jacke war für die Witterung viel zu dünn. Er strafte uns alle mit mürrischer Mißachtung; ich hatte den Eindruck, er trug diese Miene unablässig zur Schau, außer im Schlaf; sie wirkte immer aufgesetzt, immer provokant, obwohl er zu schwächlich schien, um irgend jemanden zu provozieren.
    Nick verriet mir, der Junge sei Mitglied einer faschistischen Jugendorganisation in Ungarn gewesen. Wie er

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