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Der Kaiser des Abendlandes

Der Kaiser des Abendlandes

Titel: Der Kaiser des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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das Hoftor öffnen ließ und die Treppe zu seinen Gemächern hinaufeilte. Seine nächtliche Verkleidung, in die er das Schwert und Joshuas Leihgabe eingewickelt hatte, trug er unter dem Arm. Überall im Haus und im Garten wurde gearbeitet. Auf dem Weg hatte Suleiman sich wie immer umgesehen und, trotz des Gewimmels in den Gassen und auf den Plätzen, bemerkt, dass er verfolgt wurde. Er hatte einen geschickten Haken geschlagen, sich hinter einen Mauervorsprung zurückgezogen und von dort aus schnell erkannt, dass es Hasan al-Maqrizi war, der Botenjunge seines Vaters, der wieder einmal hinter ihm herspionierte.
    Das Einzige allerdings, was Hasan hatte sehen können, war, dass Suleiman von irgendwoher kam und zum Haus seines Vaters ging. Suleiman war aufgrund dieser Beobachtung jedoch klar, dass sein Vater und Abdullah seine Wege weiterhin überwachen ließen und herausfinden wollten, wohin er ging. Das hieß, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach immer noch nicht wussten, wo Mariam lebte.
    Die Dienerinnen hatten seine Zimmer aufgeräumt und geputzt. Suleiman zog seine unauffällige Kleidung aus, nahm den Turban ab und setzte eine neue Kopfbedeckung auf. Er versteckte das Schwert, die schwarzen Hosen und die Jacke in einer Truhe und suchte nach dem Tuch, das er vor einigen Tagen als Geschenk für Mariam gekauft hatte.
    Vorsichtig, um Joshuas Leihgabe nicht zu beschädigen, schlug er das schmale Buch in das Tuch ein. Er hielt eine Sammlung zusammengehefteter Pergamentblätter in den Händen, die in französischer Sprache geschrieben und mit kleinen Bildern in verblichenen Farben geschmückt war. Eine Kostbarkeit, die Joshua zwischen anderen Büchern aufbewahrt hatte.
    »Ein Auszug aus einer Chronik in Reimen«, hatte Joshua erklärt, als er Suleiman das Buch übergab, »von Jean de Joinville. Über König Ludwig IX.«
    Suleiman hatte die Buchstaben verständnislos angestarrt und sich erklären lassen, dass es eine Abschrift aus einer jüdischen Schule in Paris war, die von einem besonders begabten jungen Maler ausgeschmückt wurde.
    »Mariam wird es lesen können«, hatte Joshua gesagt. »Aber sie darf es nicht behalten. Es gehört mir nicht.«
    »Ich bringe es dir zurück, Joshua«, hatte Suleiman versprochen. Er wusste die Geste Joshuas zu schätzen; das Buch war eine Kostbarkeit, die nicht verloren gehen durfte. Er faltete das Tuch um die Chronik, knüpfte ein Band darum und verschloss es mit einer Schleife. Dann rief er nach Nur, einer Dienerin, und trug ihr auf, ihn nach einiger Zeit wieder zu wecken. Er streckte sich aus, drehte sich auf die Seite und war fast augenblicklich eingeschlafen.
    Nachdem er am frühen Abend geweckt worden war, blinzelte er gähnend und fand sich schnell zurecht. Er hatte von Mariam geträumt, wie so oft. Er ließ sich etwas Essen und einen Krug Saft bringen, zog sich an und überlegte, wie er am schnellsten und ungesehen zum Fischmarkt und zu Mariams Haus kommen könnte. Dort draußen lauerte der hakennasige Hasan, dessen Ehrgeiz, Suleiman auf die Schliche zu kommen, mittlerweile so groß wie ein Gebirge geworden war.
    Ich hab ihn bisher immer abgehängt, dachte er, während er die Tür hinter sich schloss, und ich werde ihm auch heute Nacht entkommen. Das Schwert, das den Armen hilft, muss unsichtbar bleiben.
    Leise ging er hinunter in den Garten, duckte sich im Schatten und schlich an den Gebäuden des Harems vorbei bis zum hintersten Winkel, wo die Mauern aufeinander trafen. Während der vergangenen Monate war er vorsichtiger geworden. Schließlich kannten Hasan al-Maqrizi und sein Auftraggeber Abdullah jede Gasse und jeden Weg im weiten Umkreis des Hauses. Aber weder der eine noch der andere konnten ununterbrochen das Haus und die Gartenmauern im Auge behalten. An vorstehenden Steinen und über Quaderkanten kletterte Suleiman zur Mauerkrone hinauf, setzte sich und wartete geduldig.
    Einen Steinwurf entfernt ragte der Taubenturm mit seinen vielen Öffnungen auf. In ständigem Wechsel kamen Tauben seines Vaters dort angeflogen oder stiegen mit klatschenden Flügelschlägen auf in die Luft. Einige Ellen neben dem Fundament des Turms hatte Abdullah die beiden Männer begraben lassen, die seine Freunde nachts hatten umbringen wollen und die Henri während eines Kampfes in völliger Dunkelheit erschlagen hatte. Obwohl Suleimans Gedanken bei seinen Freunden waren, tasteten seine Blicke mit größter Sorgfalt die Umgebung ab. Er konnte nichts Verdächtiges erkennen, niemand schien ihn zu

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