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Der Kaiser des Abendlandes

Der Kaiser des Abendlandes

Titel: Der Kaiser des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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dass meine Mittelmäßigkeit eines Tages mein Verderben sein wird.«
    Auch Nadschib verabschiedete sich mit einer tiefen Verbeugung und sagte: »Das wird zwei, drei Tage nach meiner völligen Unfähigkeit sein, mit den Fingern, im Kopf, auf Papier und mit dem Abakus richtig rechnen zu können. Aber da ich weiß, dass Allah auch mit den dummen Gläubigen ist, wird sich ein Mildtätiger finden, der mir Brei und Brotkrumen nicht verwehrt, o Effendi.«
    »Ihr strapaziert meine Duldsamkeit. Alle beide!«, rief Abu Lahab, der sich nicht sicher zu sein schien, ob er fluchen oder grinsen sollte. »Bis morgen. Zur gewohnten Stunde.«
    »Wa alaykum as-Salaam!«, sagte Abdullah und verließ rückwärtsgehend den Raum. Naschib folgte ihm schweigend. Vor dem Tor nickten sie einander zu und gingen, in verschiedene Richtungen, schweigend ihrer Wege.

 
    2
     
     
     
    Im Mai Anno Domini 1324: Zwischen Luzern und der Rhône
     
    Es waren nun schon mehr als einhundertzwanzig Tage und Nächte vergangen, seit zweihundertachtundachtzig Juden – Männer, Frauen, Mädchen, Knaben, Kinder und Säuglinge – in Überlingen am Bodensee im Mauerturm verbrannt oder außerhalb des Bauwerks erschlagen oder zu Tode geschunden worden waren. Nur ein Einziger hatte das Massaker überlebt: der zwanzigjährige Elazar ben Aaron.
    Zweihundertachtundachtzig. Die Zahl hatte sich in Elazars Herz eingebrannt, als stamme sie aus der Kabbala, doch von Tag zu Tag war sie ihm kleiner erschienen und hatte an Gewicht verloren. Es war schwer möglich, um so viele Menschen angemessen zu trauern. Es war bereits unermesslich hart und quälend, auch nur um drei Menschen trauern zu müssen: den Vater, die Mutter und die kleine Sarah mit den strahlenden blauen Augen und dem unwiderstehlichen Kinderlächeln.
    Seit den nächtelangen Gesprächen mit Rabbi Baruch Cohen in dessen Haus in Luzern war vieles geschehen. So unendlich viele Schritte lagen hinter ihm – durch Schnee und Matsch, durch Täler und über eisige Pässe. Zwar führte ihn seine Wanderung nach Süden, der Sonne und der lange vermissten Wärme entgegen, doch zurzeit führte sie nur durch Schnee und Eis. Das Ziel war wie eine schemenhafte Verheißung: Jerusalem.
    Elazar war viel allein gewandert und oft verzweifelt. Zuweilen hatte er sich aber auch mit zufälligen Weggenossen zusammengetan. Dabei hatte er sich auf unbekannten Pfaden immer weiter von Luzern entfernt. Flüchtlinge, Schmuggler, Wegekundige und Gebrechliche, die unterwegs an Entkräftung starben und die man begraben musste, hatte er begleitet. Schritt für Schritt. Er litt Hunger und Durst. Und es gab mehr Schnee, als er je zu sehen gewünscht hatte. Flucht vor Grenzwächtern, Verstecke in einsamen Hütten, Gastfreundschaft von Menschen, die ihren kargen Besitz und ihre wenigen Vorräte mit den Wildfremden teilten, obwohl sie keine Juden waren. Und nun saß er am Ufer der Rhône, deren Wasser in der ersten zaghaften Wärme des Frühjahrs langsam anschwoll.
    »Warum Jerusalem?« Diese Frage hatte er sich vielleicht tausend Mal gestellt. Und die tausendfache, aber noch immer undeutliche Antwort war: Warum nicht die Heilige Stadt und das Grab des Hohepriesters Simon?
    Von Luzern hatte er sich nach Meiringen durchgeschlagen, mühevoll am See entlang und dann weiter nach Bern. Bis nach Genf hatte er es unter unsäglichen Mühen schließlich geschafft. Nur selten konnte er sich mit Geld aus dem Stiefelsaum oder dem versteckten Saum des Gürtels eine Pause und die notwendige Erholung leisten. Der Rabbi von Genf hatte ihn aufgenommen, gepflegt und ihn in seinem Entschluss bestärkt, nach Marseille oder Aigues-Mortes zu wandern, um sich dort eine Schiffspassage zu sichern. Er brauchte ein Schiff, das ihn nach Zypern brachte.
    »Aber die Insel ist weit«, murmelte er und stemmte sich von dem riesigen Kiesel hoch, der aus dem schneebedeckten Ufergeröll aufragte. Er zog die Handschuhe straff, rückte die Mütze tief in die Stirn und stapfte flussabwärts. Sein dicker Wanderstock bohrte sich in ein Gemisch aus Kies und Schwemmgut. Wieder begann ein langer Abschnitt einer noch längeren Wanderung. Elazar hoffte, bald einen Pfad oder eine Straße zu finden und vielleicht einen Bauernkarren, der ihn mitnehmen würde.
    Unter einem grauen Himmel, der Schnee oder Regen versprach, führten ihn seine Schritte weiter nach Süden.
     
     
    Schlaflos lag Suleiman auf seinem Lager. Das Flämmchen der Öllampe war soeben erloschen. Aus der Glutschale, in der eine

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