Der Kaiser des Abendlandes
dunkelblauer Himmel, durch den gewaltige weiße Wolken nach Westen drifteten, lagerte sich über dem Rhônetal. Mitunter verspürte Elazar, den keiner der Bootsbesatzung nach seinem Glauben, seiner Herkunft oder dem Ziel seiner Reise gefragt hatte, einen leichten Anflug von Zufriedenheit und Glück. Er war tausend Meilen von Überlingen entfernt, knapp ein halbes Jahr lag der schlimmste Tag seines Lebens zurück.
»He, Patron«, rief er gegen das Gurgeln der Strömung und das Zischen des Heckwassers an, »legen wir heute Nacht an? Wir haben Vollmond! Oder fährst du weiter?«
Der Bootsführer, den die Schiffsknechte auch Kapitän oder Patron nannten, war ein bärenstarker, schwarzhaariger Mann mit mächtigen Muskeln. Er wandte sich an Elazar und schüttelte den Kopf.
»Zu gefährlich! Wenn wir gegen Sonnenuntergang ein feines Eckchen finden, wirfst du den Heckanker. Vollmond hin, käsiges Licht her – wir wollen unsere Ladung abliefern, ohne zu kentern. Der Fluss ist tückisch, Elzaron!«
Unter diesem Namen hatte sich Elazar den Schiffern angeschlossen. Die fünf Männer waren raue Gesellen, die nur wild und unbeherrscht wurden, wenn reichlich roter Wein floss. Sie behandelten ihn wie ihresgleichen, denn er arbeitete so hart wie sie. Und er tat es, ohne zu murren, ja er tat es sogar gern. Er spürte, wie seine Muskeln hart und kräftig wurden. Die Sonne auf seiner Haut brannte, als ob Pergamentschichten aufflammten und der Schrecken seiner Erinnerungen nach und nach ein wenig verblasste. Dennoch trabten, schlichen, hasteten und schwammen die Erinnerungen mit ihm mit. Er war nur ein heimatloser, verwaister junger Jude, ohne wirkliches Ziel, der nichts besaß als sein Leben.
Jede Stunde, die er auf dem namenlosen Boot schuftete, bescherte ihm ein kleines Glücksgefühl. Er war in Sicherheit, solange er unter sich die Wellen des Flusses spürte und die raue Freundlichkeit der anderen Männer. Zusammen mit Patron Pierre wuchtete er das lange Steuerruder nach rechts oder links, um das Boot in der ruhigen Strömung ruhig zu halten.
Wie weit, wie viele Tage und Nächte jene Hafenstadt Marseille oder Aigues-Mortes entfernt war, wusste er nicht. Er musste sich weiter treiben lassen, so wie das ächzende und knarrende Boot.
Suleiman hielt Mariams Hand und spürte die Berührung ihrer Schulter. Neben ihm lag auf einem der Kissen das Büchlein. Mariams Vater hatte ihn freundlich begrüßt und in den Garten gebeten. Hinter dem Windschirm saß die Erzieherin, stickte an einem stoffbespannten Rahmen und achtete darauf, dass Mariam und er einander nicht zu nahe kamen.
»Wir werden ein schönes Haus haben«, sagte Suleiman leise. »Vielleicht sogar hier, in Jerusalem.«
»Wann wird das sein?«
»Nun, eine Zeit lang wird es sicher noch dauern«, antwortete er. »Henri, Uthman und Joshua haben große Dinge mit Sean und mir vor. Ich habe dir schon von den drei Alten erzählt, und auch davon, wie Sean und ich den Armen helfen. Aber Sean und ich, wir sind noch sehr jung, wir haben noch so viel zu lernen.«
Mariam hatte ihr langes Haar heute aufgesteckt und über den Ohren zu zwei losen Zöpfen geflochten. Im abendlichen Licht glänzten ihre Ohrringe. Suleiman konnte seine Augen nicht von ihr losreißen. Jedes Mal, wenn er sie sah, erging es ihm so. Sie war eine blühende Schönheit, sie liebte ihn, so, wie er sie liebte, und sogar ihr Vater würde erlauben, dass sie seine Braut wurde. Ihr Vater und sie wurden – wie eine kleine Gruppe weiterer Christen – in Jerusalem geduldet, weil dem Mamelucken-Emir Herrn Dentrevez’ Handelsverbindungen zum Vorteil gereichten.
»Was wollt ihr lernen? Oder anders gefragt: Was werden sie euch lehren? Denn kämpfen könnt ihr ja, wie ihr schon so oft bewiesen habt.«
Er streichelte ihre Finger und sagte: »Uthman hat viele Jahre lang in einer spanischen Medrese studiert, einer Art Schule, die man in Spanien auch Universität nennt. Er hat wohl tausend Bücher in vielen Sprachen gelesen. Eigentlich sieht man ihm gar nicht an, wie klug er ist. Er wirkt auf den ersten Blick stolz und entschlossen wie ein Krieger. Und auch Henri ist sehr belesen, ebenso wie Joshua natürlich. Sean und ich müssen lernen, aus der Weisheit dieser Männer zu schöpfen. Aber auch wenn wir das schaffen, sind wir noch immer ziemlich dumm.«
Mariam schüttelte lächelnd den Kopf und drückte Suleimans Hand. »Du bist nicht dumm. Wer Pergamente so beschreiben kann wie du und sie um Steine wickelt«, sie
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