Der Kaiser des Abendlandes
beobachteten.
Als die Schatten länger geworden waren, steckte er das Päckchen in den Gürtel und packte das Ende eines langen Astes. Als er sich vorsichtig fallen ließ, krümmte sich der Ast und federte zu Boden. Suleiman streckte sich und verhinderte, dass der Ast mit einem Ruck in die Höhe schnellte. Im Schatten der Mauer, tief zu Boden geduckt, lief Suleiman bis zu den überwucherten Felsen und Gemäuerresten und schlug dann einen seiner geheimen Wege ein, die ihn über Sandpfade zu einer der ersten Gassen dieses Viertels führte.
Seit die Mamelucken in der Stadt herrschten, kamen viele muslimische Pilger nach Jerusalem, zur drittheiligsten Stadt des Islams. Es waren zu ihrer Unterbringung mehrere Hospize gebaut worden, in denen sie schlafen und essen und sich von der Reise erholen konnten. Der Besuch der Al-Aksa-Moschee auf dem Tempelberg und aller anderen heiligen Stätten war nicht billig für die Pilger. Der Emir von Jerusalem forderte eine beträchtliche Kopfsteuer von ihnen. Inzwischen war sogar ihre Anzahl begrenzt worden, denn sie fielen den Bewohnern erheblich zur Last.
Viele von ihnen gaben bereits für die Reise ihre letzten Drachmen aus, und dann hatten sie keine Münzen mehr, um sich etwas zu essen zu kaufen oder eine Unterkunft zu bezahlen, und begannen zu betteln. Dabei wurden sie von einer ganzen Reihe hinterlistiger Diebe beobachtet, die sie dann oft überfielen und ausraubten, denn das Schwert, das den Armen hilft, vermochte nicht an jedem Ort und jede Nacht über sie zu wachen.
Ohne Eile durchquerte Suleiman auf verschlungenen Wegen fast die halbe Stadt. In einigen seiner Verstecke kurz wartend, legte er den Weg zum Haus seiner Angebeteten zurück. Er vergewisserte sich, dass ihn niemand sah, klopfte an die Tür und brauchte nicht lange zu warten, bis ihn eine unverschleierte Dienerin einließ.
Anfang Juni Anno Domini 1321: Valence an der Rhône
Die Tage waren länger und wärmer geworden, auf den Feldern wurde gearbeitet, und während sich die Schafherden über die Hügel verteilten, lobte Elazar die Gnade des Herrn. Gott hatte ihm eine Handvoll sorgenfreier Tage geschenkt.
Aber er hatte ihm die Albträume nicht genommen. Noch nicht. Noch wachte Elazar oft inmitten einer Flammenhölle auf, in der er zusammen mit den anderen Juden im Mauerturm von Überlingen und seiner gesamten Familie verbrannte. Manchmal blieben die Flammenträume aber auch aus und wurden abgelöst von den schrecklichen Bildern, die Elazar vorgaukelten, dass er in einer Eishöhle erfror, blind und mit gefrierenden Lippen durch einen Schneesturm taumelte oder auf glattem Eis ausrutschte, einen Hang hinunterstürzte und sich die Knie und Ellbogen an Felsen oder Eisplatten blutig schlug.
Jetzt stand er im Heck eines Bootes, das mit Holz beladen war und die Rhône abwärts fuhr. Kurze und lange Stämme, zugesägtes Treibholz, das der Fluss aus dem See und von abrutschenden Hängen mitgerissen hatte, Bretter und Balken; sorgfältig waren hohe Stapel geschichtet, zwischen denen sich zwei flüchtige Verschläge aus Balken und ölgetränkter Leinwand erhoben. Der Bootsführer und seine Männer, unter ihnen auch Elazar, schliefen und aßen unter dem Schutz der Planen.
Elazar half dem Bootsführer, das schwere Steuerruder zu halten. Die starke Strömung des Flusses zerrte am Ruder. Obwohl die Rhône kein Hochwasser führte, hoben und senkten die schäumenden Wellen das Boot, das sehr tief im Wasser lag. Die Sonne brannte auf Elazars bloßen Oberkörper. Er fühlte sich trotz der harten Arbeit wohl, denn er schien endgültig der Kälte und dem Schnee entronnen zu sein. Außerdem erhielt er vom Bootsführer für seine Mühen Essen, Unterkunft und eine winzige Prämie. Drei Tage lang hatte er geholfen, die Ladung vom Land aufs Boot zu schleppen, und er spürte noch immer jeden Muskel seines Körpers.
Das Boot fuhr nach Aigues-Mortes, einem Ort in der Nähe von Marseille, von dem Elazar nur vage Vorstellungen hatte. Und noch hatte er einen Tag der Reise vor sich, bis er dort ankam. Im Moment zog die abwechslungsreiche Uferlandschaft zu beiden Seiten der Rhône ruhig und friedvoll an dem kleinen Boot vorbei. Elazar sah sich um. Eine ihm völlig unbekannte Landschaftsart säumte die Ufer; Bäume, die er noch nie gesehen hatte, tauchten vor ihm auf, ebenso hochragende Felsen, schmale Weinberge und geduckte weiße Häuser in großen Feldern mit gelb blühenden Gewächsen, die Ginster genannt wurden. Ein mächtiger
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