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Der Kaiser des Abendlandes

Der Kaiser des Abendlandes

Titel: Der Kaiser des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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Judah ben Cohen begleitet, mit dem er »Weisheit aus alten Schriften zu schöpfen versuchte«, wie er lächelnd erklärte. Regelmäßig besuchten sie die Ramban-Synagoge. Auch Rabbi Cohen zählte zu den Beratern im Palast des Emirs. Ihm hatte Joshua es zu verdanken, dass auch er die muslimische Gastfreundschaft uneingeschränkt genoss. Oft begleitete Uthman Henri zu den Stätten, die vom Leben und Sterben Jesu Christi zeugten. Dort verharrte Henri, der sich längst mit der Selbstverständlichkeit eines Muslim bewegte und nur noch muslimische Kleidung trug, in tiefem Schweigen; für ihn bedeutete das stille Gebet viel, obwohl er wenig darüber sprach.
    Irgendwo in der Mitte der Stadt gab es große Gebäude, in denen ehrwürdige Richter ihre Urteile sprachen. In der Qubbat al-Musa trafen sich die Gläubigen zum Gebet. Im Basar, in den Souks und auf kleinen Plätzen fanden winzige Märkte statt. Selbst öffentliche Badehäuser gab es in Jerusalem. Jeder Hammam stand in einem anderen Stadtviertel. Die ärmeren Viertel lagen nahe bei oder auch außerhalb der Stadtmauer, wo viele Friedhöfe im Schatten alter Bäume dahindämmerten.
    Uthman war nach dem Ruf des Muezzins zum zweiten Gebet des Tages und einem Besuch in der Al-Aksa-Moschee zum Badehaus gegangen, wo er sich einer langen, gründlichen Reinigung unterzog. Er ließ seinen Bart scheren und das Haar kürzen.
    Ein hünenhafter, dunkelhäutiger Badesklave walkte und knetete ihn und verteilte wohlriechenden Balsam auf seiner Haut, von der Stirn bis zwischen die Zehen.
    Während Uthman warmes und kaltes Wasser genoss und die Arbeit des Sklaven schläfrig über sich ergehen ließ, dachte er an vergangene Abende und Nächte. Während Sean und Suleiman als »Schwert der Armen« in der Dunkelheit durch die Stadt gestreift waren, hatte er mit Henri und Joshua lange Unterhaltungen geführt. Es ging letzten Endes immer um den Frieden.
    Joshua hatte eine klare Meinung: Es kann keinen Frieden zwischen den Völkern geben, wenn nicht vorher Frieden zwischen den Religionen besteht.
    Der einzelne Herrscher und im Grund jeder Mensch, so hatte Henri gesagt, betrachte sich als Meister über die Schöpfung, über die meisten Teile der Welt. »Er sät, pflanzt und erntet, und viele seiner Handlungen gründen in den Geboten der Religion oder dem Willen des Gottes, an den er glaubt.«
    Uthman selbst hatte eine Weile geschwiegen, dann ein wenig spöttisch gelacht und schließlich geantwortet: »Ein Sandsturm, eine Sintflut, einige Tage zu viel Regen oder ein Sommer ohne Regen, mit zu viel Sonne, und dann ist es mit Säen und Ernten nicht mehr getan. Dann verhungert oder verdurstet der Meister der Schöpfung seines Gottes.«
    »Wenn ein Christ hungert, und ein Muslim schenkt ihm Korn und Wasser, so ist er gerettet«, sagte Henri in versöhnlichem Tonfall. »Nämlich dann, wenn der Muslim sich daran erinnert, was er im Koran gelesen hat.«
    »Das Gleiche gilt für Juden, Christen und Muslime. Auch mein Gott befiehlt uns, mildtätig zu jedermann zu sein.« Joshua legte die Hände auf seine Bücher, als wolle er die Weisheit darin mit Fingern greifen. »Die Gebote unserer drei Religionen stimmen darin überein.«
    »Diese Gewissheit«, sagte Henri halbwegs zufrieden, »ist ein schöner Anfang für die richtige Erziehung unserer Nachfolger.«
    »Nur dass uns noch immer ein Jude mit einem Dutzend edler Eigenschaften fehlt«, schloss Joshua und senkte den Blick auf seine Bücher.
    Jetzt saß Uthman auf einer Bank auf dem großen Terrassenplatz, der sich rund um den Felsendom erstreckte, und betrachtete den Himmel.
    Im Westen, wo die felsige Wüste und hinter ihr das Meer und der Hafen Askalon lagen, war eine ungeheure Wolke aufgezogen, die sich vor die Sonne zu legen drohte. In ihr brodelten weiße Wolkentürme, dunkle Schatten und wuchernde Ungeheuer und Wogen, die nach Süden und Norden wanderten. Die zerklüfteten oberen Ränder der Wolke schoben sich über die Sonnenscheibe. Ein grauer Schatten sank über die Stadt, und der Wolkenrand färbte sich schwarz und stechend gelb.
    »Der Regen nach dem Gewitter wird jedermann erfreuen«, murmelte Uthman und sah zu, wie die Sonne ganz verschwand. »Überall wird er den Staub und den Sand wegspülen. Es wird Zeit, dass ich mich auf den Heimweg mache.«
    Er schätzte, dass es noch etwas dauern würde, bis sich der Himmel mit Schwärze, Blitz und Donner über der Stadt entladen würde. Er brauchte sich nicht zu beeilen, denn bis zu seinem Haus dauerte

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