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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilman Rammstedt
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nämlich schon, solange ich denken kann, wahrscheinlich sogar länger, und erst kurz vor seinem Tod hat er damit aufgehört. In meinen frühesten Erinnerungen an ihn schaut er mich schon ernst an und sagt: »Bald werde ich nicht mehr da sein«, und zeigt dann auf alle möglichen Dinge, die ich nach seinem Ableben erben solle, das Ölbild mit den galoppierenden Pferden, den dolchartigen Brieföffner, den Dreh-Aschenbecher, all das, was man damals bewunderte. Jahre später fand ich heraus, dass er dieselben Gegenstände auch meinen Geschwistern versprochen hatte, mit dem gleichen verschwörerischen Zwinkern, mit dem gleichen »Das bleibt aber unser kleines Geheimnis«. Ich habe ihn nie zur Rede gestellt, denn zum einen hatten Bild und Brieföffner längst ihren Reiz verloren, zum anderen war es bereits zur Gewohnheit geworden, auf die Todesankündigungen meines Großvaters nur noch mit einem Nicken zu antworten. Keiner in der Familie widersprach ihm mehr, keiner sagte: »Du wirst bestimmt hundert Jahre alt«, weil es immer wahrscheinlicher schien, dass er tatsächlich hundert Jahre alt werden würde. Bei jedem Arztbesuch, dem stets lange Verabschiedungsrituale vorausgingen, wurde die schon fast unheimliche Konstitution meines Großvaters neu bestätigt. Bis vor wenigen Monaten besaß er noch alle eigenen Zähne, bis vor wenigen Monaten brauchte er nur zum Lesen eine Brille, und selbst dabei ließ er sie aus Eitelkeit meist weg, trotz zunächst zahlloser Zigaretten und dann zahlloser Nikotinkaugummis versahen Lunge und Herz noch lange vorbildlich ihren Dienst, und es hätte wohl keinen überrascht, wenn ihm irgendwann der linke Arm wieder nachgewachsen wäre.
    Doch dann fiel seinem Körper schließlich doch noch auf, dass dieser Zustand längst nicht mehr seinem Alter entsprach, und innerhalb kürzester Zeit holte er nach, was er zuvor versäumt hatte. Muskeln erschlafften, Arterien verstopften, Gelenke schwollen an, Ohren wuchsen. Von jedem Arztbesuch brachte mein Großvater seitdem ein neues Medikament mit. Lag früher bei den Mahlzeiten mitunter eine halbe Tablette neben seinem Glas, so erstreckte sich die Reihe nun allmählich über die ganze Breite seines Tellers, »Ach ja, mein Nachtisch«, sagte er, bevor er sie mit immer zittrigeren Fingern einzeln von der Tischdecke auflas und, den Mund angewidert verzogen, herunterschluckte. Mein Großvater achtete immer genau darauf, dass wir anderen auch ja zuschauten, dass wir genau mitbekamen, was er da auf sich nahm. Vermutlich mit Absicht ließ er manchmal eine Kapsel fallen. »Lass nur«, sagte er, wenn jemand von uns sie unter dem Tisch suchen ging, machte aber selbst keine Anstalten, sich zu bücken, und nahm die wiedergefundene Tablette ohne ein Wort des Dankes entgegen.
    Und im Grunde war es ja sogar die schwindende Gesundheit meines Großvaters, die den Anlass gab, ihm eine Reise zu schenken. »Wer weiß, wie lange er überhaupt noch reisen kann«, hatte mein ältester Bruder gesagt, und uns anderen war nichts Besseres eingefallen, eine Woche über Pfingsten, man würde ein paar Urlaubstage nehmen, gemeinsam würde man das schon durchstehen, aber dann sprang erst meine ältere Schwester ab, angeblich irgendetwas mit einer Projektwoche, und dann mein zweitältester Bruder, angeblich irgendetwas mit einer dringenden Abgabe, und weil es nun ohnehin keine komplette Enkelreise mehr werden würde, schlug meine jüngere Schwester vor zu losen, »Wir müssen uns ja nicht alle die Feiertage versauen«, sagte sie, und mein Streichholz war das kürzeste, daran bestand kein Zweifel, und die anderen beiden gaben sich nicht einmal die Mühe, ihre Erleichterung zu unterdrücken, meine jüngere Schwester ballte sogar kurz die Faust, und mein ältester Bruder schlug mir etwas zu fest auf den Rücken. »Kopf hoch«, sagte er und meinte es wohl aufmunternd, aber es klang wie ein Befehl. Ob sie das für so eine gute Idee hielten, dass nun ausgerechnet ich mit unserem Großvater wegfahren solle, fragte ich, doch die anderen winkten ab. »Vielleicht ist es wirklich am besten so«, befanden sie einhellig, »dann habt ihr endlich mal wieder Zeit füreinander«, obwohl es genau das war, wovor ich mich fürchtete.
    Es war unmöglich auszumachen, ob sich mein Großvater über unser Geschenk freute, das nun eher zu meinem Geschenk geworden war, auch wenn sich die anderen natürlich an den Kosten beteiligen würden, das sei ja keine Frage, versicherten sie mir. Er hatte den Gutschein genauso

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