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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilman Rammstedt
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wahrscheinlich ungewollt, aufmunternd.
    Ich habe früher immer nur genickt, wenn mein Großvater wieder einmal sagte, wie sehr ich ihn an sich selbst erinnere, denn meistens beruhten die Gemeinsamkeiten ohnehin auf bloßen Unterstellungen. »Ich habe auch nie etwas auf die Meinung anderer Menschen gegeben«, »Ich mochte früher auch kein Himbeereis, das legt sich wieder«, »Ich habe in deinem Alter genauso davon geträumt, zur See zu fahren«, obwohl mir dieser Wunsch sehr fremd war, und auch meinem Großvater traute ich ihn eigentlich nicht zu. Überhaupt klang vieles, was mein Großvater über seine Jugend erzählte, übertrieben, verklärend oder wie aus anderen Lebensläufen geplündert. So begegneten wir Enkel auch dem zweiten ungewöhnlichen Fund in der Bibliothek, einer Mappe mit der Aufschrift »Autobiografie«, mit Skepsis. Doch statt einer Lebensbeichte oder einem Sammelsurium zweifelhafter Heldentaten enthielt die Mappe nur ein einziges, spärlich mit der Schreibmaschine beschriebenes Blatt.
    »Erster Teil, Erstes Kapitel«, darunter mehrere Anfänge, die allesamt nach ein paar Sätzen, manchmal auch schon nach ein paar Worten, ein paar Buchstaben abbrachen.
    »Am Tag meiner Geburt regnete es«, stand da zum Beispiel. »Zusammenfassend lässt sich sagen, dass« stand da,
» Spr «
stand da, dazwischen immer wieder Versuche, eine bestimmte Szene, anscheinend aus seiner frühen Kindheit, zu beschreiben, »Eine Wiese. Ich muss nackt gewesen sein«, »Eine Wiese im Sommer, unbekleidet laufe ich«, »Eine Sommerwiese. Ich bin nackt. Mein Penis wippt hin und her«, »Wiese, Sommer, was weiß ich«, dann bricht das Manuskript ab.
    In einer knappen Stunde musste ich am Bahnhof sein, wenn ich alles noch schaffen wollte, also riss ich den gelben Klebezettel von der Bibliothekstür, atmete noch einmal aus und trat ein.
    Der Raum hatte sich allem Anschein nach weiter gefüllt, ich entdeckte den nicht mehr schaukelnden Schaukelstuhl aus dem Wohnzimmer, das seit Jahren verwaiste Aquarium, neben dem Fenster stand eine ganze Reihe noch originalverpackter Grill-Sets, und umso mehr stach im ganzen Durcheinander der Sekretär heraus. Schon von der Tür aus konnte ich erkennen, dass die Schreibfläche vollkommen leer geräumt war, offenbar war sie sogar entstaubt worden, sie glänzte geradezu, sodass ich mich kaum traute, sie zu berühren. Alles war verschwunden, die Papiere, die Kontoauszüge, die Briefe, ich fand keine Zeitungsartikel, keine Garantiescheine, von der Liste mit den Tiernamen und der angefangenen Autobiografie ganz zu schweigen. Es überraschte mich nicht, dass auch die Schubladen und Fächer ausgeräumt waren, mit Ausnahme einer übersehenen Büroklammer, die ich eine Zeit lang betrachtete, als könne sie mir irgend einen Hinweis geben, dann legte ich sie zurück in ihr Fach.
    Der Papierkorb war leer, das überprüfte ich. Ich überprüfte auch die Bücherstapel, ich verschob die abgestellten Möbel, hängte sogar die Bilder von den Wänden, doch all das blieb erfolglos.
    Ich setzte mich in den nicht mehr schaukelnden Schaukelstuhl und versuchte, eine beruhigende Erklärung für das Verschwinden aller Unterlagen zu finden, vielleicht wollte mein Großvater den Sekretär verkaufen und hatte ihn dafür leer räumen müssen, vielleicht hatte er die Papiere schon vor Monaten in einem Bankschließfach deponiert, vielleicht waren auch besonders reinliche Diebe am Werk gewesen, doch nichts davon erschien wahrscheinlich, das musste ich einsehen. Ich würde seinen Pass nirgendwo finden, dafür hatte er wohl gesorgt.
    Zurück im Wohnzimmer räumte ich das Geschirr ab, ich spülte alles gründlich, ich wischte den Boden, ich brachte den Müll raus. Ich wusste nicht, ob ich hoffte, dass meine Geschwister nach Hause kämen. »Keith, bist du nicht in China?«, würden sie fragen, und ich würde sagen: »Nein, wie ihr seht, bin ich nicht in China.« Wo denn Großvater sei, würden sie fragen und sich nach allen Seiten umdrehen, und ich würde sagen: »Großvater ist tot«, und ich sah vor mir, wie meine Geschwister mich entsetzt anblicken, sie müssen sich hinsetzen, sie wischen sich erste Tränen aus den Augen und fragen, wie das denn passiert sei, und ich sage: »Ich habe keine Ahnung. Ich habe wirklich keine Ahnung.« üb ich denn nicht bei ihm gewesen sei, fragen sie, und ich schüttele den Kopf. »Ich habe ihn irgendwann aus den Augen verloren«, sage ich dann, weil genau das stimmte und weil es vielleicht genau das

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