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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilman Rammstedt
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und am Ende sei Dai ganz gerührt gewesen und habe versprochen, ihm zu helfen. »Wobei will sie dir helfen?«, fragte ich, und Großvater sagte: »Herauszufinden, ob Hu noch lebt«, warf sich noch einen Seeigel in den Mund und schaute aus dem Fenster. »Er müsste mittlerweile weit über hundert sein«, sagte er. »Zuzutrauen wäre es ihm.«
    Für den Abend war er wieder mit Dai verabredet. »Und bis dahin«, verkündete Großvater, »machen wir uns mal einen richtig schönen Tag.«
    Er hatte uns ein Tandem gemietet. »In Schanghai fahren alle mit dem Fahrrad«, behauptete er, auch wenn ich mich, sobald wir uns auf der Straße befanden, schnell vom Gegenteil überzeugen konnte, weit und breit waren wir die einzigen, die unmotorisiert unterwegs waren, in bedrohlichem Abstand rasten die Autos an uns vorbei. Großvater schien das nichts auszumachen, er trat gemächlich in die Pedale (um sicherzugehen, dass er überhaupt trat, hatte ich darauf bestanden, hinten zu sitzen), pfiff, was ich mehr sah als hörte, irgendein Lied und betrachtete die schwindelerregenden Wolkenkratzer, an denen wir vorbeiradelten, mit einem wohlwollenden Lächeln, als wären es Schafherden.
    Großvater machte den Eindruck, er wisse, wohin er uns lenkte, fast eine ganze Stunde fuhren wir durch gleichförmige Straßenschluchten, in denen die Hochhäuser dicht gereiht standen, dann überquerten wir einen Fluss und waren sofort verloren in einem Gewirr kleiner Gassen, schiefer Häuser und halb verfallener Tempel, andauernd mussten wir uns ducken, um den tief hängenden Wäscheleinen auszuweichen, ein strenger Geruch lag in der Luft. »Das ist Opium«, behauptete Großvater, aber ich war mir nicht sicher, ob ich das glauben sollte. Und mit einem Mal lichtete sich das Häuserdickicht, und vor uns lag ein riesiger Park. »Da wären wir«, sagte Großvater, auch wenn er selbst überrascht klang. Das Verbotsschild für Fahrräder ignorierten wir (»Zähl einfach mal die Lenker«) und fuhren im Schritttempo vorbei an reich dekorierten Pavillons, an kreisrunden Seen, an duftenden Jasminbüschen, ausladenden Bambushainen und einem riesigen Beet, auf dem die verschiedenen Blumen so angeordnet waren, dass sie das detaillierte Bild einer traditionellen Teezeremonie zeigten.
    Auf einer aus den überirdischen Wurzeln eines Xanhi-Baums geformten Bank pausierten wir schließlich. Vor uns erstreckten sich die gezackten Konturen Schanghais , auf der Wiese neben uns tollten ein paar Hirschkitze herum. Großvater seufzte zufrieden. »Das ist das China, wie ich es kenne«, sagte er. »Du kennst es doch gar nicht«, wandte ich ein, und Großvater sah mich beleidigt an. »Nur weil ich noch nie hier war, heißt das noch lange nicht, dass ich es nicht kennen kann«, sagte er. Lian habe ihm so viel und so eindringlich von ihrer Heimat erzählt, dass es ihm vorkomme, als habe er jahrelang selbst hier gelebt. All die Jahre, erzählte er, habe er nachts immer wieder von China geträumt, in Kindheitserinnerungen sah er sich oft im Gelben Fluss baden oder zu den Füßen der Dorfältesten sitzen, während sie auf ihren unförmigen Gitarren chinesische Volksweisen spielten, manchmal, wenn irgendetwas Schlechtes geschehen war, habe es ihn getröstet, dass er sich schließlich in einem fremden Land befinde, das er wohl nie ganz verstehen werde. »Das hier ist meine Heimat«, sagte er und breitete die Arme aus, »ob ich will oder nicht.«
    Wie er Lian denn bei ihren Erzählungen über China verstanden habe, fragte ich ihn. Seine ganze Geschichte erschien mir immer noch verdächtig, bisher hatte ich mir nur keine Gedanken darüber machen müssen, ob sie wohl wahr sei oder nicht, und erst jetzt, da plötzlich dieser Hu aufgetaucht war und alles durcheinanderbrachte , bekam ich auf einmal Angst, ob sich Großvater nicht in etwas hineinsteigerte, was er sich vielleicht vor so langer Zeit einmal ausgedacht hatte, dass er es mittlerweile für eine tatsächliche Erinnerung hielt.
    Aus seiner Manteltasche holte er jetzt zwei winzige Plastikflaschen mit Cognac, reichte mir eine davon und nahm einen vorsichtigen Schluck aus der anderen.
    »Das mit der Verständigung war anfangs in der Tat schwierig«, sagte er. Nach dem Tag, an dem der Arzt die schlimme Nachricht übermittelt hatte, an dem Lian Großvaters Wange berührt hatte, an dem Großvater zum letzten Mal in seinem Leben errötet war, wurde er stets umstandslos zum Hinterhof durchgelassen. Lian pflegte nie vor dem frühen Nachmittag

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