Der Kaiser von China
die mit dem Mond verwechselt werden konnte, immerzu zischte es kurz und war dann ein paar Sekunden lang still. Selbst zur Tat schreiten durften wir allerdings nie, mein Großvater hatte die Eindringlinge unter seinen persönlichen Schutz gestellt, »Das sind arme, verwirrte Kreaturen«, sagte er und belangte eine Mücke selbst dann nicht, wenn sie sich zum Saugen auf seinem Arm niedergelassen hatte. »Ich habe genug, da kann ich ruhig ein paar Tropfen abgeben.«
Und als es mir einmal gelungen war, während des Mittagessens eine Fliege zu erschlagen, bekam ich umgehend eine Ohrfeige von ihm. »Was hat sie dir getan?«, fragte er mich immer wieder, und ich hielt mir weinend die Wange und sagte, sie habe mich halt genervt. »Bei uns«, rief mein Großvater, »wird niemand erschlagen, weil er nervt«, und er bedeckte die tote Fliege mit einer Schachtel Nikotinkaugummis.
Anscheinend war es meinem Großvater vor seiner Abreise nicht geheuer gewesen, meine Geschwister so lange unbeaufsichtigt zu lassen. Überall hingen kleine gelbe Klebezettel mit Anweisungen und Ermahnungen. »Fasse dich kurz« klebte auf dem Telefon, »Wie wäre es mit Tee?« auf der Kaffeemaschine, am Badezimmerspiegel entdeckte ich »Du bist richtig rum noch schöner«.
Dieses Ausmaß an Umsorgung kannte ich von meinem Großvater bislang nicht, im ganzen Haus leuchtete es gelb, manche Gegenstände, das Bügeleisen, die Fernbedienung, den Meisen-Nistkasten auf der Terrasse, hatte er mit so vielen Hinweisen bedacht, dass man sie darunter kaum noch erkennen konnte. Selbst im Kühlschrank war, wie ich staunend feststellte, jedes Produkt mit einem solchen Aufkleber versehen, auf dem mein Großvater das auf der Verpackung ohnehin angegebene Verfallsdatum noch einmal in großen Ziffern notiert hatte. Bei den meisten lag es in der Vergangenheit.
Überhaupt befand sich das Haus in vernachlässigtem Zustand, in der Küche waren Brotkrumen und Verpackungsfetzen zwar zu kleinen Haufen zusammengefegt, dann aber nicht auf gekehrt worden, aus einer zerrissenen Mülltüte quollen Kaffeefilter und Joghurtbecher, im Bad sammelten sich leere Klopapierrollen, das Waschbecken war verschliert , an überraschenden Orten fanden sich benutzte Tassen, Müslischalen, Apfelreste, willkürlich abgelegte Briefkuverts, die ein oder andere Socke.
Richtig ordentlich ist es bei uns ohnehin nie gewesen, ungefähr einmal im Jahr, meist wenn der Antrittsbesuch einer neuen Großmutter bevorstand, hat mein Großvater uns zusammengerufen und Aufgaben verteilt, wenn alle mit anpackten, werde es schließlich schnell gehen, doch er war stets der Erste, der sich, meist schon nach wenigen Minuten, auf den Sessel zurückzog, um »kurz mal zu verschnaufen«, und wenn wir Enkel daraufhin ebenfalls unsere Arbeit einstellten, beschwerte er sich nicht.
Eine Zeit lang hatten wir früher eine Haushaltshilfe, nach drei Wochen war sie dann unsere Großmutter, keine besonders langfristige, aber dennoch stellte mein Großvater nie eine neue Hilfe ein.
Eigentlich hätte ich mich beeilen sollen, die Zeit drängte schließlich, vielleicht hatte doch eins meiner Geschwister etwas vergessen oder heute früher Schluss, und außerdem musste ich unbedingt den nächsten Zug erreichen, um noch rechtzeitig bis drei zurück sein zu können, aber irgendetwas lähmte mich, irgendetwas ließ mich erst in jedes einzelne Zimmer blicken, ließ mich all die kleinen gelben Zettel lesen (»Das passt gut zu deiner braunen Hose«, »Lies doch mal etwas Anständiges«, »Funktioniert nicht mehr«), irgendetwas hielt mich von der Bibliothek fern, und wenn sich der Pass überhaupt irgendwo im Haus befand, dann wohl dort. Die Bibliothek, so wurde der ausgebaute Dachboden jedenfalls genannt, auch wenn er diesem Namen nur schwer gerecht wurde. Zwar gab es dort Bücher, wie fast überall im Haus türmten sie sich in gewagten Stapeln auf Boden und Mobiliar, hauptsächlich diente das Zimmer aber als Abstellfläche für alles Ausrangierte (Gartenstühle, Fossiliensammlung), für alles Defekte (Plattenspieler, Luftmatratze), für alles Veraltete (Schreibmaschine, Expander) und Skurrile (Hirschgeweih, Trampolin), für Dinge, die einmal Erinnerung sein sollten (selbst getöpferte Seifenschalen, die Tischtennispokale meines zweitältesten Bruders), und Dinge, die auf ihren Einsatz warteten (Langlaufski, Wok).
Mein Großvater nutzte die Bibliothek als Arbeitszimmer, obwohl sich dafür andere, weit weniger zugestellte Räume angeboten
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