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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilman Rammstedt
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war, was mein Großvater auch gewollt hatte.
    Wie befürchtet, war das Einweckglas auf dem Kühlschrank fast leer, ich nahm mir die verbliebenen Scheine und einige der größeren Münzen heraus, für die Bahnfahrt würde es vielleicht gerade reichen. Wie immer beschloss ich, mir die Summe zu merken, obwohl ich über den Gesamtbetrag dieser heimlichen Darlehen längst den Überblick verloren hatte. Früher hatte ich mal eine Liste geführt und hinter jeden Eintrag eine Zumutung aufgeführt, für die das entwendete Geld eine Entschädigung darstellen sollte, »weil ich beim Tischtennis gegen die Sonne spielen musste«, »weil ich als Letzter im Jahr Geburtstag habe«, »weil ich erkältet bin«, »weil ich in dieser Familie lebe«, und auch wenn ich die Liste schon längst nicht mehr führte, überlegte ich mir immer noch jedes Mal eine angemessene Rechtfertigung, jetzt fiel das leicht, »weil ich ihn identifizieren muss«, dafür war der Betrag noch viel zu gering, geradezu ein Schnäppchen.
    Auf dem kleinen Tisch neben der Garderobe lag der Block mit den gelben Klebezetteln, die letzte Ermahnung meines Großvaters hatte sich auf das oberste Blatt durchgedrückt, zu schwach, um sie lesen zu können, dennoch riss ich den Zettel ab und steckte ihn ein.
    Mit der Türklinke in der Hand drehte ich mich noch einmal um und fragte mich, ob sich wohl auch mein Großvater noch einmal umgedreht hatte, um sich zu vergewissern, auch ja nichts vergessen zu haben. Ich ging zurück zur Garderobe, schrieb, die mühsamen Druckbuchstaben meines Großvaters imitierend, »Das ist für euch alle« auf einen der gelben Zettel und heftete ihn an den Rahmen des Bildes mit den galoppierenden Pferden. Dann verließ ich das Haus.

Kurz hinter Schanghai, den 22. Mai
    Meine Lieben,
    ich sitze auf der schmalen Rückbank eines Pickups , und gerade haben wir die Stadtgrenze von Schanghai bereits wieder hinter uns gelassen. Mein ausgearbeiteter Reiseplan ist endgültig hinfällig, aber das macht nun auch nichts mehr. Großvater sitzt vorne auf dem Beifahrersitz, er ist bestimmt viel zu aufgeregt, um schlafen zu können, und neben ihm, am Steuer, sitzt Dai .
    Dai war der Grund gewesen, warum Großvater so schnell nach Schanghai gewollt hatte, und Dai haben wir es zu verdanken, dass wir die Stadt nun schon wieder verlassen.
    Aber der Reihe nach. Ein paar Stunden, nachdem ich gestern ins Bett gewankt war, klopfte Großvater so lange gegen meine Zimmertür, bis ich ihn irgendwann hereinließ. Er hatte sich natürlich keine Sorgen gemacht, er entschuldigte sich nicht für seine hektische Abreise, er fragte nicht, wie mein Tag gewesen war, und auch nicht, warum ich ein eigenes Zimmer genommen hatte. Er strahlte mich nur an, rief »Wir sind so nah dran« und hielt dabei Daumen und Zeigefinger vors Gesicht, als biete er mir ein unsichtbares Bonbon an. Ich hatte schreckliche Kopfschmerzen, es fiel mir schwer, überhaupt die Augen offen zu halten. Und woran genau seien wir so nah, fragte ich, aber Großvater ignorierte die Frage, »Zieh dich an«, sagte er und warf vereinzelte Kleidungsstücke aus meinem Koffer aufs Bett, »ich lade dich zum Frühstück ein« und führte mich dann aber doch nur zum Buffet des Hotels. Schon dort gab es nichts als Fisch, geräucherte Hechte, rohen Papageifisch, selbst ganze Katzenhaie starrten uns mit klarem Blick von der Anrichte an. Ich trank nur einen Tee, Großvater knabberte ein paar Seeigel und fing sofort an zu erzählen.
    Gestern Vormittag in Luoyang , als ich noch bei der Post war, hatte er mithilfe des Concierges noch einmal beim Pekinger Theater angerufen, wo ihm drei Tage zuvor versprochen worden war, sich nach Lians Wanderzirkus umzuhören, von dem Großvater ihnen erzählt hatte. Und tatsächlich, nach etlichen Telefonaten und versandeten Spuren waren sie auf Dai gestoßen. Dai war früher selbst Akrobatin gewesen, bevor ein schwerer Unfall ihre Karriere vorzeitig beendet hatte. Mittlerweile arbeitete sie bei einer großen Schanghaier Bank, doch die Jahre nach ihrem Unfall hatte sie in einem Heim für arbeitsunfähige Artisten verbracht, »und dieses Heim, nun halt dich fest«, sagte Großvater, »leitete Hu«.
    Wer denn bitte Hu sei, fragte ich, und Großvater sagte, das erzähle er mir später, und berichtete sofort aufgeregt weiter, wie er Dai gestern getroffen habe, was für eine hinreißende Person sie sei, und er habe ihr die ganze Geschichte von Lian und ihm erzählt, bis tief in die Nacht habe das gedauert,

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