Der Kaiser von China
notwendig. »SO beschäftigt, dass es nicht einmal für einen kurzen Anruf reicht.« Dann schien sie wieder irgendetwas zu schlürfen. »Wie dem auch sei«, sagte sie, und es blubberte leise. »Ich erwarte Sie heute im Laufe des Tages.« Wenn nicht, gebe es auch andere Möglichkeiten, mich dorthin zu holen, da seien ihr nicht die Hände gebunden. »Und bringen Sie unbedingt den Pass mit«, fügte sie noch hinzu, bevor sie auflegte.
Und gleich darauf rief Franziska an, und natürlich war auch sie ungehalten. Das könne doch wohl nicht sein, sagte sie, eben sei doch noch besetzt gewesen. »War das etwa wieder diese Frau von gestern? Die dich noch in der Nacht erwartete?«, fragte sie und pfiff anerkennend, und vielleicht hätte ich ja auch dort die ganze Zeit gesteckt. »Wie dem auch sei«, sagte sie dann, und sie sagte es genauso wie die Frau aus dem Krankenhaus. Ich wisse ja sicherlich, was für ein Tag heute sei, und sie wolle nur mal ganz unverbindlich fragen, ob ich es denn nun einrichten könne, andernfalls würde sie schnell noch ihr Adressbuch durchgehen, um zu fragen, ob sonst jemand gerade Zeit habe, es wäre doch schließlich eine Schande, den Termin einfach so verfallen zu lassen, und sie habe sich doch schon extra heute freigenommen , dann piepste der Anrufbeantworter, die Ziffer auf der Anzeige sprang eine Stelle weiter, und nach wenigen Sekunden klingelte es wieder. »Ich bin es noch mal«, sagte Franziska. »Ich wollte dich nur noch schnell an den Personalausweis erinnern, den darfst du natürlich nicht vergessen. Krawatte ist nicht so wichtig.« Und auf einmal hatte ich keine Lust mehr, ständig an irgendwelche Ausweise erinnert zu werden, und ich stand so ruckartig auf, dass ich mit dem Kopf an die Unterseite der Schreibtischplatte stieß. Ich hatte auch keine Lust mehr, nach irgendwelchen Erklärungen zu suchen, ich wollte es jetzt gerne einfach haben, ich wollte wieder nur noch nicken, ja, ich würde an meinen Personalausweis denken, ja, ich würde auch den Pass meines Großvaters mitbringen, ja, ich würde in den Westerwald fahren, ich würde ihn identifizieren, ich würde all das in die Wege leiten, was in die Wege geleitet gehörte, und ja, ich würde rechtzeitig um drei zurück sein, das war zu schaffen, ich würde Franziska heiraten, und ja, ich würde meinen Geschwistern alles erzählen, sogar viel mehr als nötig, das würde halt etwas dauern, und ja, ich würde mich entschuldigen, ich würde ihnen das Geld zurückzahlen, auch das würde halt dauern, aber das konnte auch ruhig dauern, weil auf einmal nichts mehr dringend wäre. Und bis dahin würde ich Schritt für Schritt alles abnicken.
Als Erstes musste ich also den Pass meines Großvaters finden, und dafür musste ich wohl oder übel hinüber ins Haus schleichen, ich wählte die Nummer, die bis vor drei Monaten noch meine eigene Nummer gewesen war, ließ es lange klingeln, dann machte ich mich auf den Weg.
Im Winter konnte man das Haus von meinem Fenster aus sehen, jetzt verdeckten die Blätter der Apfelbäume fast die gesamte Sicht. Dennoch hatte ich es mir angewöhnt, das Gartenhaus nur noch durch das Fenster auf der dem Haus abgewandten Seite zu verlassen. So landete ich direkt auf einem kleinen Stichweg, an dessen Ecke ich überprüfen konnte, dass die Luft vor dem Haus rein war, und auch danach schaute ich mich immer wieder um, bis ich das Vorgartentor erreicht hatte.
Seit siebzehn Tagen war ich nicht mehr hier gewesen, es kam mir viel länger vor. Und natürlich war das Haus nicht kleiner geworden, so etwas ist unmöglich, auch muss es immer schon so wenig Fenster gegeben haben. Nur der »Hier wache ich«-Aufkleber mit der Zeichnung eines Schäferhundes an der Haustür war neu, auch wenn das nach allem, was ich wusste, eine Lüge war.
Ich klingelte, vorsichtshalber mehrmals, ohne genau zu wissen, was ich hätte sagen sollen, wenn jemand aufgemacht hätte, dann öffnete ich das Tor, stieg die vier Stufen zur Haustür hoch und trat ein. Auf dem Esstisch befanden sich noch die Reste vom Frühstück und, wie es schien, auch von weiter zurückliegenden Mahlzeiten, ein kleiner Schwarm Fruchtfliegen hing über den Tellern wie ein Miniatur-Mobile, im Orangensaft trieb eine frühe Wespe.
Schon immer hat es im Haus überall gesummt, überall hat es gesirrt und gefleucht und gekrabbelt, im Sommer hatten wir engmaschige Netze vor die Fenster gespannt, doch das half wenig, immer fand sich eine Lücke, immer lockte irgendwo eine Glühbirne,
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