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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilman Rammstedt
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hätten, und offiziell hatten wir Enkel daher keinen Zutritt. Von den Badezimmern einmal abgesehen, war die Bibliothek als einziger Raum des Hauses von innen abschließbar. »Jedem seine Privatsphäre«, sagte mein Großvater, »ich gehe ja auch nicht einfach in eure Zimmer«, obwohl das nicht stimmte, er klopfte zwar immer, wartete dann aber keinerlei ))Herein« ab, und oft genug zeugten hinterlassene Zigarettenkippen auf der Fensterbank davon, dass er sich auch während unserer Abwesenheit in den Zimmern herumgetrieben hatte. Hin und wieder zitierte er freimütig aus dem Tagebuch meiner jüngeren Schwester, die es schließlich wegsperrte, doch die Zierschlösser der Schreibtischschubladen stellten für meinen Großvater kein rechtes Hindernis dar.
    »Wie gehabt: Kein Zutritt« stand auf dem gelben Klebezettel an der Tür zur Bibliothek, dahinter gleich drei seiner keilförmigen Ausrufezeichen, und ich zögerte tatsächlich, als ob es meinem Großvater jetzt noch etwas ausgemacht hätte. Ohnehin hatten wir uns auch früher selten an dieses Verbot gehalten. Regelmäßig, wenn mein Großvater außer Haus war, waren wir zu fünft in die Bibliothek geschlichen, und obwohl stets einer von uns am Fenster Wache stand, wagten wir dort nur zu flüstern und schreckten beim kleinsten Geräusch zusammen. Doch so aufregend es auch war, sich in diesem verbotenen Bereich aufzuhalten, so sehr enttäuschte es uns doch jedes Mal, wie wenig Geheimnisvolles sich darin verbarg. Gerade vom Biedermeier-Sekretär, angeblich ein Familienerbstück und, wie die Menge umstehender Aschenbecher vermuten ließ, der Arbeitsplatz meines Großvaters, hatten wir uns mehr versprochen, eine Unzahl kleiner Fächer und Schubladen hätte etlichen Geheimnissen Platz geboten, zum Vorschein kamen aber nur Büroklammern und Münzen, Batterien, Visitenkarten und abgerissene Knöpfe. Auf der Schreibfläche stapelten sich Papiere, Zeitungsausschnitte ohne erkennbar durchgehende Thematik, Kontoauszüge, Quittungen, Geschäftspost.
    Nur zwei Mal entdeckten wir Ungewöhnliches. Beim ersten Fund handelte es sich um eine Liste, auf der mein Großvater mit der für ihn größtmöglichen Annäherung an Schönschrift all unsere Namen einem bestimmten Tier zugeordnet hatte. »Keith – Marder«, stand da zum Beispiel, neben den Namen meiner jüngeren Schwester hatte er »Seepferdchen« geschrieben, neben den meines ältesten Bruders »Hirschkäfer«. Auch sich selbst hatte mein Großvater in die Liste mit aufgenommen: »Ich – Hamster«.
    Wir waren uns nicht ganz sicher, was diese zoologischen Verweise zu bedeuten hatten, unseren Großvater danach zu fragen, wagten wir natürlich nicht, nur mein zweitältester Bruder verkündete zu unser aller Entsetzen beim Abendbrot, dass er sich zu Weihnachten einen Hamster wünsche. Mein Großvater zeigte keine auffallende Reaktion. »SO etwas kommt mir nicht ins Haus«, sagte er nur und aß ungerührt weiter.
    Ich vergaß die Liste, bis sie mir, Jahre später, bei einem erneuten Stöbern in der Bibliothek wieder in die Hände fiel. Das »Marder« hinter meinem Namen war durchgestrichen. »Auch Hamster« stand jetzt dahinter, und obwohl ich versuchte, die Tatsache, nun zur gleichen Tiergruppe wie mein Großvater zu gehören, als Auszeichnung zu verstehen, klang diese Neubestimmung für mich eher resigniert.
    Ich konnte mich immer noch nicht überwinden, die Bibliothek zu betreten, noch nie war ich allein dort gewesen, und ich überlegte kurz, ob ich die Reihenfolge nicht doch ändern und meine Geschwister anrufen sollte, um mit ihnen gemeinsam hineinzugehen. Ich nahm mir vor, die Liste, falls ich beim Suchen auf sie stoßen sollte, nicht zu beachten, ich wollte nicht sehen, zu welchem Tier mein Großvater mich mittlerweile gemacht hatte, ob ich überhaupt noch ein Tier war und nicht schon längst eine Geranie, ein Kieselstein, ein Stückchen Plankton. Und fast noch weniger wollte ich sehen, was mein Großvater wohl nun hinter seinen eigenen Namen geschrieben hatte. Dass der Hamster noch Bestand hatte, konnte ich mir bei allem, was in der Zwischenzeit geschehen war, kaum vorstellen.
    Irgendwann habe ich Franziska einmal gefragt, ob ich ihrer Meinung nach meinem Großvater eigentlich ähnlich sei. Ich war mir nicht sicher, welche Antwort ich mir von ihr erhoffte, und sie anscheinend auch nicht, denn sie sah mich etwas zu lange an, bevor sie schließlich »Kein bisschen« sagte. »Wirklich nicht«, fügte sie noch hinzu und lächelte,

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