Der Kaiser von China
aufzustehen, doch Großvater wartete trotzdem jeden Tag ab den frühen Morgenstunden auf sie. »Ich brauchte ja mein Leben lang nie viel Schlaf«, sagte er, »aber in diesen Wochen erinnere ich mich nicht, überhaupt jemals ins Bett gegangen zu sein.« Aufgeregt lief er im Hof auf und ab, die Zigarettenkippen ragten ihm nach ein paar Tagen fast bis zum Knöchel, und jedes Mal, wenn Lian dann auf ihrem mit Rollen versehenen Diwan von den Dienern hineingezogen wurde, schlug sein Herz so laut, dass die Fensterscheiben zu klirren begannen.
Die ersten Tage wagte er Lian noch immer kaum anzusehen, schüchtern fütterte er sie mit Eiscreme, mit Schweinehaxen, mit Sahnetorten, wagenradgroßen Pfannkuchen und ganzen Schubkarren voller Kartoffeln, für die Lian nach anfänglicher Skepsis eine große Vorliebe entwickelte. Ihre Diener schickte sie nun immer gleich nach der Ankunft fort, in der entferntesten Ecke des Hofes verkrochen spielten sie den ganzen Nachmittag über leise Mah Jong und beäugten verstohlen, wie nun Großvater Lian zwischen zwei Bissen Luft zufächelte oder mit dem Holzpaddel die Schultern massierte. »Es wurde nicht viel gesagt in den ersten Tagen«, erzählte Großvater. »Aber trotzdem redeten wir pausenlos, denn alles sprach für sich.« Wie sich ihre Lippen über dem Eislöffel schlossen, sprach für sich. Wie sich ihr Hals wand, wenn er das Paddel in ihren Nackenfalten vergrub, sprach für sich. Wie ihre Wimpern flatterten, wenn er den Fächer neben ihr schwang, sprach für sich. Es sprach für sich, wie Großvater ihr hin und wieder eine Haarsträhne aus dem Gesicht schob, wie er sich bemühte, nicht zu laut zu seufzen, wenn sich ihre Arme zufällig berührten, wie er die Luft einsog , wenn er unter irgendeinem Vorwand in die Nähe ihres Haares gelangt war.
»Du bist eine sehr schöne Frau«, wagte Großvater manchmal zu sagen, manchmal sagte er: »Du hast einen wunderbar ungesunden Appetit«, manchmal sogar »Das Nachbeben deiner Schenkel verfolgt mich bis in meine Träume«. Lian nickte dann immer, als habe sie zwar verstanden, was er da sagte, müsse aber noch darüber nachdenken, dann, zuweilen erst eine halbe Stunde später, setzte sie zu einer Antwort an, schnurrte ein paar Worte, die, so hoffte Großvater, ebenfalls für sich sprachen, und dann war es wieder still. Eine Stunde vor Vorstellungsbeginn wurde Lian immer in ihre Garderobe gezogen, sie griff stets noch einmal nach Großvaters Hand und hielt sie so fest, dass ihm vor Schmerz die Tränen kamen, und dennoch schmerzte es noch mehr, wenn sie die Hand wieder losließ, wusste er doch, dass zwar seine Fingerknochen schnell heilen würden, Lians Körper aber nicht mehr. Abend für Abend saß er im Publikum und fürchtete, dass Lian nicht zu ihrem Auftritt erscheinen würde, aber sie erschien jedes Mal, die Hanteln stemmte sie mit immer größerer Leichtigkeit, und beim Finale suchte ihr Blick nun sofort den meines Großvaters, die Kusshände warf sie nur noch in eine einzige Richtung, und Großvater fing sie »stolz und gierig wie Brautsträuße«.
Es verging eine Woche, bis Lian eines Nachmittags ihre erste Frage stellte, zumindest klang es wie eine Frage, sie wiederholte den gleichen Satz mehrere Male und sah Großvater dabei auffordernd an. Er versuchte es mit mehreren Antworten, »Karl« sagte er, »Fünfzehn Uhr dreißig« sagte er, »Im April dreiundzwanzig« sagte er, »Kalt, aber kaum Regen« sagte er, doch Lian schüttelte nur jedes Mal den Kopf, stellte wieder und wieder ihre Frage und winkte schließlich einen der Mah Jong spielenden Diener herbei, es war derjenige, der auch schon dem Arzt beim Übersetzen geholfen hatte, und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Diener schien erstaunt, ließ sich anscheinend mehrere Male bestätigen, dass er richtig gehört hatte, dann blickte er Großvater an, räusperte sich und sagte in langsamem aber fast fehlerfreiem Deutsch: »Bitte verzeihen Sie meine Deutlichkeit, aber die We1tsensation Lian lässt mich Ihnen die Frage ausrichten, wann beim Bauche des Buddha Sie denn gedenken, die Weltsensation Lian endlich zu küssen.« Und während Großvater noch nach Atem rang, flüsterte Lian dem Diener noch etwas zu, was der sofort weitergab: »Die Weltsensation Lian will wirklich nicht aufdringlich erscheinen, aber wie Sie zweifellos wissen, hat sie nicht mehr lange zu leben und einfach keine Zeit für vorsichtige Annäherungen.« Sehr zu seinem eigenen Bedauern war Großvater zunächst sprachlos.
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