Der Kaiser von China
Schließlich fasste er sich wieder und sagte zum Diener: »Wären Sie so freundlich, Lian zu fragen, ob es ihr recht wäre, wenn ich sie dann jetzt sofort küssen würde?« Der Diener beriet sich kurz mit ihr, dann sagte er: »Die Weltsensation Lian lässt Ihnen ausrichten, dass ihr das sogar sehr recht wäre.« Ob Lian vielleicht so freundlich sein könnte, die Augen zu schließen, sonst käme er sich so unbeholfen vor, ließ er den Diener ausrichten. »Wenn es der Sache dienlich ist, schließt die Weltsensation Lian mit größtem Vergnügen ihre Augen«, antwortete der Diener nach kurzer Rücksprache. Ob er, der Dolmetscher, dann vielleicht auch die Augen schließen könnte, schließlich würde es nun etwas intim, fragte Großvater und war überrascht, dass der Diener auch dies übersetzte. »Die Weltsensation Lian hat gerade angeordnet, dass sämtliche Lebewesen zu Land, zu Wasser oder in der Luft, ein-oder mehrzellig, warm-oder kaltblütig, Eier legend oder lebend gebärend, frei lebend oder in Gefangenschaft, kurz gesagt, dass alle Lebewesen dieser Erde ab sofort die Augen zu schließen haben, in der Hoffnung, dadurch die Sache etwas beschleunigen zu können.«
Wenn da noch Spielraum gewesen wäre, sagte mir Großvater, hätte er sich in diesem Moment noch mehr in Lian verliebt, als er es ohnehin schon getan hatte, und er habe sich zu ihr hinübergebeugt, sei dann, als er merkte, dass er durch das bloße Hinüberbeugen nicht einmal in die Nähe ihres Mundes kam, halb auf sie hinaufgeklettert und habe, während seine Hände fast vollständig in ihren Wangen versanken, seine Lippen auf die ihren gepresst. »Lippen wie Daunendecken sind das gewesen«, schwärmte er mir vor, »so warm und weich und flauschig.« Und dann nahm Lian seinen Kopf in beide Hände, selbst wenn er gewollt hätte, wäre es nun völlig unmöglich gewesen, den Kuss zu beenden, Lians Zunge bahnte sich den Weg in seinen Mund und bewegte sich dort umher wie ein eingesperrtes Reptil, ihre Brüste drückten sich mit aller Macht gegen seinen Oberkörper, ihren rechten Oberschenkel hatte sie so fest um Großvaters Hüfte geschlungen, dass er schon nach wenigen Sekunden seine Beine nicht mehr spüren konnte. Irgendwann löste sie dann ihre Lippen von seinen, presste Großvaters Kopf an ihre Schulter und ließ ihm über den Diener ihre Dankbarkeit ausrichten und auch, dass sie nun aber dringend wieder ein paar Bissen vertragen könnte, »und die Art, wie sie daraufhin mit dem Mund die Kartoffeln von meiner Hand auflas«, sagte Großvater, »sprach nicht nur für sich, sondern Bände. Und zwar«, präzisierte er, »solche, die eher unter dem Ladentisch verkauft werden.«
Von diesem Tag an küssten sie sich nicht nur zwischen Füttern, Massieren und Fächeln fast pausenlos, auch der dolmetschende Diener war nun immer mit dabei. »Die Weltsensation Lian wünscht Ihnen einen guten Morgen«, begrüßte er Großvater, sobald er mit Lian am frühen Nachmittag in den Hof gerollt kam, »und wenn ich mir die Freiheit herausnehmen darf«, ergänzte er nach einigen Tagen, »ich persönlich wünsche Ihnen das auch.«
Großvater nahm noch einen Schluck aus seiner Cognacflasche. »Und dieser Diener«, sagte er, nachdem er sich kurz geschüttelt hatte, »hieß Hu«. »Der Hu, den wir gerade suchen?«, fragte ich. »Ganz genau der.«
Eine glückliche Woche sei das gewesen, erzählte Großvater dann weiter, die glücklichste seines Lebens wohl, auch wenn es für solche Aussagen wohl noch ein wenig zu früh sei. So leidenschaftlich seien Lians Küsse gewesen, dass er dabei vollkommen vergaß, die Lippen einer sterbenden Frau auf seinen zu haben. Und auch Lian erwähnte ihre Krankheit mit keinem Wort, im Gegenteil, in die Unterhaltungen, die sie mithilfe von Hu führten, mischten sich immer mehr Zukunftspläne ein, deren Unmöglichkeit ihnen wohl beiden bewusst war, auch wenn sie sich davon nicht beirren lassen wollten.
»Die Weltsensation Lian lässt Sie fragen, ob Sie sich vorstellen könnten, die Weltsensation Lian einmal in China zu besuchen«, richtete Hu zum Beispiel aus, und Großvater antwortete, das wäre ihm eine große Freude und Ehre. Dass die Weltsensation Lian ihn nämlich gern ihrer Familie vorstellen würde, sagte Hu. Da werde er ja jetzt schon ganz aufgeregt, sagte Großvater. »Mein Heimatdorf ist da übrigens ganz in der Nähe«, sagte Hu. Das sei ja ein Zufall, sagte Großvater. »Vielleicht können Sie dann ja auch meine Familie kennenlernen«,
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