Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilman Rammstedt
Vom Netzwerk:
Bürokomplexes zusammengeschrumpft.
    Ich lotste uns jedoch ins Hafenviertel, in dem es zwar immer noch reichlich übel beleumundete Ecken gibt, allerdings laut Stadtführer auch die wahren Geheimtipps unter den Restaurants der Stadt. Wir entschieden uns fürs » Biyang Zhu « (wörtlich übersetzt: »der den Wind belügt«), eine winzige Hütte inmitten riesiger Lagerhallen. Wir waren zwar nicht die einzigen Ausländer, aber die einzigen Gäste ohne Tätowierung. Auf allen freigelegten Körperstellen drängten sich Drachen, Anker und Meerjungfrauen, ich erkannte verwinkelte Schriftzeichen, blutige Dolche und gebrochene Herzen, hin und wieder einen Sonnenuntergang, eine Zahnbürste, einen durchgestrichenen Frauennamen. Man würdigte uns keines Blickes, was uns ganz recht war, wir setzten uns an den einzig freien Platz, ganz hinten bei den Toiletten. Ich konnte Großvater kaum sehen, so dicht hing der Rauch von Pfeifen und Zigaretten und getrockneten Lotusblüten im Raum.
    Großvater rieb sich die Hand. Endlich seien wir mal raus aus diesen Touristenfallen, sagte er und begutachtete zufrieden die vergilbten Poster, auf denen keusch lächelnde nackte Mädchen zu sehen waren, rote Sportwagen, Fußballmannschaften, auf einem sogar ein kleines Kätzchen im Weidenkorb.
    Selbst die Bedienung rauchte eine Zigarette, während sie uns mehr feindselig als fragend ansah. Eine Karte schien es nicht zu geben, mit Englisch kamen wir nicht weit, also zeigten wir auf die Gerichte, die am Nachbartisch gerade mit erstaunlicher Geschwindigkeit verzehrt wurden, die Kellnerin nickte kurz, warf im Weggehen die Zigarette auf den Boden, ohne sie auszudrücken, und kam nach ein paar Minuten mit einer unbeschrifteten Flasche und zwei kleinen Gläsern zurück. Mit einem Filzstift markierte sie den Pegel, dann ging sie wieder. Großvater schenkte uns ein. »Auf Schanghai«, sagte er. »Auf deine Gesundheit«, sagte ich, wir tranken, und sofort brannte es auf der Zunge, es brannte im Hals, es brannte im Magen, es brannte sogar im kleinen Zeh. Ich schnappte nach Luft, meine Augen tränten. »Tut gut, oder?«, fragte Großvater und schenkte uns nach. Ich schüttelte heftig den Kopf, dass ich besser keinen mehr trinken sollte, sagte ich, sonst könne ich bald für nichts mehr garantieren, aber Großvater drückte mir das Glas in die Hand. »Trink«, sagte er. »Es ist höchste Zeit, dass du endlich einmal für nichts mehr garantierst.« Und ja, verdammt, er hatte recht, ich wollte für nichts mehr garantieren, strenggenommen hatte ich auch nichts mehr, für das ich garantieren konnte, ich war in China, ohne in China sein zu wollen, ich verstand kein Wort, ich verstand auch nichts anderes, die Reiseplanung war mir längst entglitten, ich saß in einer Spelunke irgendwo am Ende der Welt und war auf einmal sehr erleichtert. »Auf mich«, sagte ich und hob mein Glas. Großvater lächelte. »Auf dich«, sagte er.
    Ich habe vergessen, wie viele Gläser wir noch leerten, bevor uns endlich das Essen gebracht wurde, zwei bis weit über den Rand gefüllte Schalen, aus denen allerhand Zangen und Tentakeln und Augen und Flossen herausragten, die wir nicht zuordnen konnten, aber das störte nicht, wir schlangen alles in uns hinein und tranken zwischendurch begeistert auf den Koch, auf Schanghai, auf China mit seiner gesamten köstlichen Flora und Fauna, die Lücke zwischen Flüssigkeitsstand und Filzstiftmarkierung wurde immer größer, was zum Teil daran lag, dass beim Nachschenken nicht immer die Gläser getroffen wurden, und irgendwann schüttelte Großvater die letzten Tropfen aus der Flasche. »Auf die Weltsensation Lian «, sagte ich. Großvater nickte dankbar. »Auf Lian «, sagte er, dann fing er an zu weinen, erst leise, kaum hörbar, dann brach es aus ihm heraus, er schluchzte lauthals, sein ganzer Körper wurde durchgeschüttelt, es lief ihm aus den Augen, aus der Nase, aus dem Mund, und ich saß ihm hilflos und betrunken gegenüber, strich ihm ein paar Mal über den Arm und wünschte mir, mitweinen zu können.
    Irgendwann reichte ihm einer der großflächig tätowierten Männer vom Nebentisch wortlos ein Taschentuch herüber. Es war sichtlich benutzt, aber Großvater schnäuzte sich dennoch ausgiebig damit, wischte sich das Gesicht ab, dann sah er mich mit kleinen Augen an. »Ich glaube, ich muss mich mal kurz hinlegen«, sagte er, dann fiel sein Kopf auf den Tisch, ich räumte noch schnell die Gläser zur Seite, bevor ich meinen dazulegte.
    Als ich

Weitere Kostenlose Bücher