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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilman Rammstedt
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setzte sich ans Steuer, Großvater bekam den Platz neben ihr, und ich quetschte mich auf die schmale Rückbank. Dass wir noch unser Gepäck aus dem Hotel holen müssten, sagte ich, doch Dai meinte, dafür hätten wir keine Zeit. »Das holen wir auf dem Rückweg.«
    Wir sind jetzt schon fast drei Stunden unterwegs, gut die Hälfte davon haben wir gebraucht, um aus Schanghai herauszukommen, jetzt geht es durch riesige Industriegebiete, links und rechts endlose Reihen von Schornsteinen, Dai hat die Nebelscheinwerfer eingeschaltet, dennoch reicht die Sicht nicht weit. Sie und Großvater tuscheln viel, ich kann nicht verstehen, was sie sagen, manchmal lachen sie, manchmal streicht ihm Dai kurz über den Kopf.
    Ich werde nun versuchen, ein wenig zu schlafen. Ob es Euch wohl gut geht?
    Auf ganz bald,
    K.

Es war ungewohnt, im Zug zu sitzen, ungewohnt, sich fortzubewegen, ungewohnt, auf einmal von so vielen Menschen umgeben zu sein, die mich sehen konnten, auch wenn sie von dieser Möglichkeit nur selten Gebrauch machten. Ich nickte ihnen trotzdem allen zu.
    Nach einer Dreiviertelstunde musste ich umsteigen, und auf einmal hoffte ich, dass der zweite Zug doch keine Regionalbahn war, dass stattdessen eine Dampflok einfahren würde, eine verirrte Transsibirische Eisenbahn, ich würde allein in einem Abteil sitzen, vor mir ein dampfender Samowar, und tagelang zöge nur Landschaft an mir vorbei, Wälder und Felder und Berge und Wüsten, und erst in China würde ich aussteigen, zwar reichlich verspätet, aber immerhin.
    Doch natürlich kam nur der Regionalexpress, ich stieg ein, und was dann vorbeizog, war lediglich Westerwald, den kannte ich schon von den Postkarten meines Großvaters. Und hier hatte er doch wohl nicht bleiben wollen, das konnte doch wohl nicht sein Plan gewesen sein, und er musste doch einen Plan gehabt haben, der dann unerwartet durchkreuzt worden war, er musste doch ein Ziel gehabt haben, das dann nie erreicht wurde, denn das Einzige, was mich noch trauriger machte als die Tatsache, dass er sein Vorhaben, wie auch immer es genau aussah, nicht zu Ende hatte führen können, war die Möglichkeit, dass er es vielleicht doch zu Ende geführt hatte, dass womöglich nichts leichter gewesen war, als es zu Ende zu führen, weil es gar keinen richtigen Plan gegeben hatte, weil es ihm zum Schluss schlichtweg gleichgültig geworden war, wie ihm so vieles, fast alles irgendwann gleichgültig geworden war, aber wenn er sich schon so dramatisch auf eine letzte Reise begeben hatte, als wäre er doch kein Hamster, sondern ein Elefant, wenn er schon seine Spuren zu verwischen versucht hatte, wenn er schon unbedingt verschollen sein wollte, dann hätte er sich doch wenigstens ein kleines bisschen weiter entfernen können, denn im Westerwald verscholl es sich nun einmal schlecht.
    Die Pathologie lag, wie es sich gehörte, im Keller. Der Flur war ausgestorben, meine Schuhe quietschten viel zu laut auf dem Linoleum, ich wollte nicht gehört werden, ich wollte nicht gesehen werden, ich wollte, dass der Flur kein Ende nahm, dass er sich nur immer weiter erstreckte, einmal um die ganze Erde herum, und so die Pfeile auf den Hinweisschildern nur eine Richtung vorgaben, kein Ziel. Aber natürlich kam dann irgendwann die Mi1chglastür, »Bitte nur einmal klingeln« stand daneben auf einem kleinen Schild, was mir unnötig erschien, wer hatte es hier schon eilig. Ich atmete ein paar Mal ruhig durch, strich mir sogar noch einmal durchs Haar, als ob ich einen Antrittsbesuch vor mir hätte, und machte mich auf das Schlimmste gefasst.
    Ich hatte noch nie einen toten Menschen gesehen. Meine einzige Erfahrung mit dem Tod war Friedrich oder Vincent gewesen, unser kurzzeitiger Kater. Nur Großvater war bei ihm, als der Arzt die Spritze setzte, wir Enkel mussten im Wartezimmer bleiben, was uns ganz recht war. Ich erinnere mich, dass wir zwar traurig schauten, als mein Großvater mit dem leblosen Friedrich oder Vincent auf dem Arm zu uns stieß, aber hauptsächlich, weil wir wussten, dass sich das so gehörte. Mein Großvater hingegen war vollkommen verstört. »Ich habe tatsächlich gehört, wie das Leben aus ihm wich«, erzählte er uns auf der Rückfahrt. Ein leises Geräusch sei das gewesen, eine Art Klicken, und er sah sich im Auto nach einer Vergleichsmöglichkeit um, öffnete und schloss das Handschuhfach schließlich ein paar Mal und sagte: »So ähnlich, aber noch leiser.«
    Zu Hause angekommen, ließ er uns schnell den Esstisch abräumen,

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