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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilman Rammstedt
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aufwachte, erwartete ich den berechtigten Kopfschmerz, aber er blieb aus, im Gegenteil, ich fühlte mich überraschend erfrischt. Auch Großvater schien es blendend zu gehen, er saß an einem der Nebentische, spielte Karten mit einer Handvoll Matrosen und strich gerade einen Haufen Geldscheine ein, als er mich erblickte. »Gut, dass du wach bist«, rief er. »Wir müssen langsam los.« Er verabschiedete sich bei jedem seiner Mitspieler per Handschlag, einer von ihnen rief ihm noch etwas hinterher, und alle übrigen lachten. Auch Großvater lachte, »Nette ] ungs «, sagte er, als wir auf der Straße standen. »Schlechte Spieler, aber wirklich nette Jungs.«
    Dass wir uns nun aber beeilen müssten, sagte Großvater.
    Er hatte mit Dai verabredet, sie von der Arbeit abzuholen, auf dem Tandem machte sich der viele Schnaps allerdings wieder bemerkbar, wir schlingerten waghalsig durch den Verkehr, an Kreuzungen fielen wir regelmäßig hin, weil wir uns in unterschiedliche Richtungen lehnten, manchmal stellte Großvater das Treten auch ganz ein und kippte langsam zur Seite weg, mit einer Hand versuchte ich ihn dann wieder aufzurichten. »Alles im Griff«, rief er dann schnell.
    Großvater behauptete zwar, den Weg genau zu kennen, als wir aber zum vierten Mal am dreibeinigen Oriental Pearl Tower vorbeifuhren, glaubte ich ihm nicht mehr, dass es in Schanghai von diesen Türmen nur so wimmele. Wir hielten ein Taxi an, und Großvater gelang es nach vielem Hin und Her von Worten und Geldscheinen, den Fahrer davon zu überzeugen, unser Tandem aufs Dach zu schnallen.
    Auf der Fahrt wurde Großvater wieder ganz aufgeregt. » Dai wird dir gefallen«, sagte er. »Wenn du meinst«, sagte ich. »Sie kann sich mit einem Streichholz zwischen den Zehen eine Zigarette anzünden«, sagte er. »Das ist praktisch«, sagte ich. »Und die Zigarette beim Rauchen zwischen den Zehen halten.« »Aha«, sagte ich. »Und die Beine sind dabei hinterm Kopf verschränkt«, sagte er. Ob sie ihm das etwa vorgemacht habe, fragte ich, und Großvater schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich bin mir sicher, dass sie das alles kann.«
    Eine gute Dreiviertelstunde zu spät erreichten wir schließlich die Bank, bei der Dai arbeitete. Die Straße war fast ausgestorben, nur eine junge Frau saß im Lotussitz auf dem Bürgersteig. »Das ist sie«, rief Großvater und lief sofort auf sie zu, während ich noch das Tandem vom Autodach schnallte.
    » Dai , das ist Keith. Keith, das ist Dai «, sagte er und strahlte uns erwartungsvoll an. Ohne sich aufzustützen, sprang Dai auf die Beine und gab mir die Hand. »Keith«, sagte sie. »Ein schöner Name.«
    Sie war älter, als ich auf den ersten Blick gedacht hatte, dreißig, vielleicht sogar Mitte dreißig. Ihr Körper war drahtig, fast jungenhaft, das Haar kurzgeschnitten , beide oberen Schneidezähne waren aus Gold, sodass es bei jedem Wort kurz aus ihrem Mund hervorblitzte.
    Meinem Großvater gab sie einen Kuss auf die Wange. »Hast du etwas herausbekommen?«, fragte er, Dai lächelte, das werde sie gleich in Ruhe erzählen, jetzt wolle sie erst einmal etwas essen. Ob wir auch so hungrig seien, fragte sie, und ich nickte, auch wenn allein der Gedanke an Essen mir schon zu schaffen machte.
    Wir stiegen aufs Tandem, Dai auf den hinteren Lenker, und radelten los. Wie mir Schanghai gefalle, fragte sie mich, und ich sagte, es sei eine sehr facettenreiche Stadt. »Ja«, sagte Dai und nickte traurig, da hätte ich wohl leider recht. Sie kannte sich erstaunlich gut aus, zwischen den Anweisungen, die sie Großvater zurief, »Jetzt links abbiegen«, »Nach zweihundert Metern rechts«, »Dem Straßenverlauf folgen«, wies sie uns immer wieder auf die Sehenswürdigkeiten hin, an denen wir vorbeifuhren, und in Schanghai schien fast jedes Haus eine Sehenswürdigkeit zu sein, sie zeigte uns den Konfuziustempel, den Jadebuddhatempel und den Tempel zum Gedenken der Fünf Beamten, sie zeigte uns die Ohel-Moishe-Synagoge , das Zollhaus und das Peace Hotel, sie zeigte uns das Stadtmuseum, das Stadtplanungsmuseum, das Museumsplanungsmuseum, sie zeigte uns den angeblich teuersten Friseur Chinas, sie zeigte uns den angeblich kleinsten Wolkenkratzer Asiens, sie zeigte uns den niedlichsten Hund der Welt.
    Und um uns das alles besser zeigen zu können, stellte sie sich irgendwann mitten in der Fahrt auf die Lenkerstange, und mir fiel auf, dass eines ihrer Beine kürzer zu sein schien als das andere, am linken Fuß trug sie einen flachen Halbschuh,

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