Der Kaiser von China
damit Friedrich oder Vincent dort aufgebahrt werden konnte. Wir wollten ihn eigentlich so schnell wie möglich beerdigen, doch mein Großvater bestand darauf, die Leiche noch gemeinsam mit uns zu betrachteten, mindestens eine Stunde lang, das seien wir dem Kater schuldig. »Schaut ihn euch genau an«, sagte mein Großvater. »Er wird nie wieder lebendig werden. Er wird keinen einzigen Vogel mehr jagen, er wird sich nie mehr räkeln, er wird nie mehr schnurren, er wird sich nie mehr die Pfoten lecken, er wird nie mehr die Augen schließen, er wird nie wieder etwas riechen, er wird nie wieder etwas schmecken, er wird sich nie wieder etwas vornehmen, er wird nie wieder glücklich sein, er wird nie wieder traurig sein, er wird nie wieder etwas wollen, er wird nie wieder Schmerzen haben, er wird nie wieder etwas hoffen, er wird nie wieder diese Leere in sich spüren, er wird keinen einzigen Tag älter werden, und er wird nichts mehr bereuen, er wird nichts mehr vermissen, er wird endlich die Gewissheit haben, dass von nun an nichts mehr schlimmer werden kann.« Nach und nach begannen wir alle zu weinen, und mein Großvater hörte auf zu reden, betrachtete Friedrich oder Vincent nur noch mit einem Blick, den ich nicht richtig einordnen konnte, sehr viel Müdigkeit lag jedenfalls darin.
Als die Stunde um war, durften wir den Kater endlich begraben. Jeder sagte ein paar Worte, nur als die Reihe an meinem Großvater war, winkte er ab. »Er kann uns nicht hören«, sagte er. »Das konnte er nie, er war ein Kater«, dann ging er ins Haus zurück, und wir sahen ihn für den Rest des Tages nicht mehr.
Ich drückte auf den Klingelknopf, ich drückte ein zweites Mal, ein drittes Mal, ich hörte selbst dann nicht auf zu klingeln, als von drinnen hastige Schritte zu hören waren, als ein »Ist ja gut« zu hören war, ich klingelte weiter, als die Tür aufgerissen wurde und die Pathologin mich böse anblitzte. Sie sah überhaupt nicht so aus, wie ich sie mir am Telefon vorgestellt hatte. Sie war höchstens dreißig, braungebrannt, in ihrem linken Nasenflügel glänzte ein kleiner Strassstein. Ob ich nicht lesen könne, fragte sie, und obwohl ich sagte, doch, das könne ich, musste sie schließlich meinen Finger von der Klingel zerren. »Was ist denn?«, fragte sie dann.
»Ich bin Keith Stapperpfennig . Wir haben telefoniert.«
Die Pathologin hob ihre Augenbrauen. »Schön, dass Sie es einrichten konnten«, sagte sie und bemühte sich sehr, das unaufrichtig klingen zu lassen. Dann drehte sie sich wortlos um und ging den kleinen Flur entlang, öffnete eine Doppeltür und ließ mir den Vortritt.
Der Raum war kleiner als gedacht, aber sonst sah alles so aus, wie ich es erwartet hatte. Das Neonlicht war da, das Karge war da, die Kälte war da, das Brummen. Das Kühlregal bedeckte fast die komplette linke Wand, etwa zwanzig metallene Schubfächer gab es, und ich fragte mich, wie viele davon wohl belegt waren.
Die braungebrannte Ärztin ging zielstrebig auf eines der Fächer rechts unten zu, zog es mit beiden Händen auf, und ich hielt den Atem an, weil ich dachte, dass mir nun mein Großvater nackt und eingefallen entgegenrollen würde, doch ich hatte den weißen Ganzkörpersack vergessen, auch den kannte ich doch aus den Filmen. Das, was wohl Füße waren, hob den Sack am unteren Ende, sonst zeichnete sich zum Glück nichts ab. Die Ärztin sah mich an. »Sind Sie bereit?«, fragte sie, und wahrscheinlich musste sie das fragen, aber tatsächlich war da so etwas wie Mitgefühl in ihrer Stimme. Ich nickte, auch wenn das nicht stimmte, denn natürlich war ich nicht bereit, wann war man das schon, und natürlich war das deshalb eine ganz und gar unsinnige Frage, sie sollte besser »Vorsicht« sagen, oder »Viel Glück«, und dann zog sie den Reißverschluss ein Stück weit herunter, und ich sah das Haar meines Großvaters, die Stirn meines Großvaters, ich sah seine buschigen Augenbrauen, die geschlossenen Lider, ich sah seine ausladende Nase, den schmalen Mund, ich sah sein eckiges Kinn, ich sah den verschrumpelten Hals, dort endete mein Blick, weiter war der Sack nicht geöffnet, und ich spürte den Blick der Ärztin auf mir, ich durfte die Augen nicht schließen, ich durfte nicht seufzen oder aufschreien oder schluchzen, ich durfte auch nicht zu lange hinschauen, dabei wollte ich lange hinschauen, mindestens eine Stunde lang, ich wollte mir nichts entgehen lassen, mir alles einprägen, jeden Hautfleck, jede Falte, jedes einzelne Haar.
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