Der Kalligraph Des Bischofs.
ihn für einen Irregeleiteten, an anderen
Tagen für einen Propheten. Es war, als wäre Claudius eine Spinne, die nicht Netze bauen, sondern |272| fliegen wollte. Und sie predigte auch den anderen das Fliegen. Nie und nimmer konnte man das verstehen.
Oder war es vielleicht genau umgekehrt? Alle Spinnen dieser Erde mühten sich ab, mit ihren dünnen Beinen das Fliegen zu erlernen,
sprangen von Bäumen und Häusern und sausten doch jämmerlich herab, und nur Claudius hatte erkannt, daß man Netze bauen konnte,
wunderschöne Netze … Germunt erschauderte.
Es war etwas an diesem Bischof, das man nicht wie Krümel vom Tisch fegen konnte. Claudius glaubte selbst, was er schrieb,
und er glaubte es so fest, wie wenige Menschen die katholische Lehre glaubten.
Er glaubt es mit seinem ganzen Willen, mit allem Gefühl und allem Verstand. Er weiß es. Und es ist für ihn selbstverständlich,
daß alle es erfahren müssen.
Germunt sehnte sich nach einem solchen Glauben. Vielleicht war das sein Weg.
Germunt spürte ein Prickeln im Gesicht. Er mußte etwas gehört haben. Alle Aufmerksamkeit richtete sich auf mögliche Geräusche.
Es war in jedem Fall eines jener Gefühle, auf die er sich verlassen konnte wie auf sonst nichts. Sein Herzschlag beschleunigte
sich und wollte sich nicht beruhigen.
»Woher soll ich wissen, daß ihr mich wirklich freilaßt, wenn ich ihn euch ausgeliefert habe?« War das die Stimme des Räubers?
Sie klang verzerrt, winselnd.
Die kleine Spinne sauste den Eimerrand hinab und floh über den Boden, als spürte sie genau wie er die Gefahr.
[ Menü ]
|273| 19. Kapitel
Biterolf saß ab und ließ sich ins Gras fallen. Er hörte Gelächter. Sollten sie über ihn lachen! Sein Gesäß und seine Oberschenkel
fühlten sich an, als wären sie mit Keulen weichgeprügelt worden. Wenn er ganz still lag und sich nicht bewegte, fand er ein
wenig Erleichterung.
Sie hatten ein Heer von über fünfzig Reitern, zwei Dutzend Bogenschützen und knapp einhundert Fußkämpfern zusammengestellt.
Vier Grafen mit ihrem Gefolge waren zu ihnen gestoßen, Klöster und Herrenhöfe hatten ihre Pflichtmannen zugesteuert. Vielleicht
saßen die, die erst seit einigen Stunden Teil des Heerzugs waren, noch gut im Sattel, aber er, Biterolf, hatte vier Tage Gewaltritt
hinter sich.
»Aufsitzen!« befahl Claudius.
»Was ist mit Wichard?« fragte jemand.
»Nun, seht Ihr ihn hier irgendwo?«
»Nein, Ehrwürden.«
»Ich habe ihn hierher beordert, er ist nicht gekommen, also werden wir ohne ihn kämpfen. Er verliert Ehre, Amt und Ländereien.«
»Herr, Wichards Güter sind nur einen kurzen Ritt entfernt, und wir brauchen jeden Mann. Wollen wir nicht nachschauen, was
der Grund für sein Fehlen ist?«
Augenblicklich verstummte das eiserne Klirren, das Schwatzen und Brummen. Der Wind spielte in den Fahnen, sonst war es still.
Biterolf hob den Kopf. Grauen stand in den Gesichtern der Männer. Niemand sprach es aus, aber Biterolf wußte genau, was sie
dachten. Er dachte es auch. Wenn die Sarazenen Wichard umgebracht hatten, wenn sie |274| so weit ins Landesinnere vorgedrungen waren, dann, Gnade gebe Gott, waren sie dem Angriff nicht gewachsen.
»Gut, reiten wir hin und schauen nach. Das Fußvolk bleibt hier.«
Biterolf saß auf dem Pferd, bevor er überhaupt darüber nachdenken konnte, wie sehr er das Aufsteigen haßte. Oft brauchte er
drei oder mehr Anläufe, ehe er genügend Schwung hatte, seine Körperfülle auf den Sattel zu ziehen. Wie viele hatte er dieses
Mal gebraucht? Er konnte sich nicht erinnern.
Sie ritten einen Ackerweg entlang. Niemand sprach. Es war eine lange Kette von Reitern, aus der Ferne sicher ein imposanter
Anblick. Biterolf sehnte sich in die Schreibstube zurück. Seit sie aus Turin aufgebrochen waren, hatte Claudius ihn nicht
einmal angesehen. Warum hatte er ihm befohlen mitzukommen?
Wenn sie nun einen niedergebrannten Hof vorfanden? War das nicht ihr Todesurteil? Biterolf versuchte, sich die Sarazenen vorzustellen
– ein den Horizont füllendes Reiterheer, ihre Krummschwerter wie Sensen schwingend, Totenmasken auf den Gesichtern.
Bald überholten die Reiterkrieger des Bischofs einen Eselskarren, und dann sah Biterolf auch Bauern auf den Feldern arbeiten.
Er seufzte erleichtert. Ein gutes Zeichen.
Das erste, was man von Wichards Hof sah, war eine Kirchturmspitze. Claudius drosselte nicht die Geschwindigkeit, bis die Reiter
sich auf den Platz zwischen Kirche und
Weitere Kostenlose Bücher