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Der Kalligraph Des Bischofs.

Der Kalligraph Des Bischofs.

Titel: Der Kalligraph Des Bischofs. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Der Franke gefror in der Bewegung. Eine Gestalt
     erschien oben am Rand des Daches, deren schlanker Körper in dunkles Leder gekleidet war. Ein Langdolch hing dem Mann an der
     Seite, und er hielt einen Bogen in der linken Hand. Als wäre das Holz des Bogens butterweich, zog er mit der Rechten, die
     einen neuen Pfeil aus dem Köcher gegriffen hatte, die Sehne zurück, erneut anlegend.
    »Euch kenne ich«, rief Hengist erstaunt. »Ihr seid uns im Gasthaus zum ›Blinden Acker‹ begegnet.« Er senkte seine Stimme wie
     jemand, der es gewohnt ist, daß man ihm gehorcht. »Nehmt den Bogen herunter!«
    »Germunt, links neben Euch ist eine Tür.« Otmar hielt den Blick fest auf Hengist gerichtet. »Die Holzverkleidung ist nur lose
     angebracht.«
    »Ihr macht einen großen Fehler!« Wie eine anbrechende Steinlawine grollte Hengists Stimme.
    Germunt trat ein-, zweimal gegen den Bretterverschlag, bis der in sich zusammenfiel. Dahinter fand Germunt einen von modrigem
     Geruch erfüllten, finsteren Gang vor. Er hinkte hinein, hörte draußen wieder ein Pfeifen in der Luft. Mit den Händen tastete
     er sich voran. Die Füße stießen gegen Hindernisse und ließen naß-faule Gerüche zu ihm hinaufströmen. Irgendwann rührte seine
     vorgestreckte Hand an eine Fläche, die weich war und schmierig. Er bog nach links ab. Bald betrat er einen Raum, in den aus
     Fugen und Ritzen Licht fiel. Der Staub wurmstichigen Holzes fiel in langen Bahnen von der Decke und verbreitete einen Geruch
     von Alter. An einer Wand lehnte ein Stuhl ohne Hinterbeine.
    »Hier bleiben kann ich nicht«, sagte Germunt halblaut. |268| »Wie hast du dir das gedacht, Otmar?« Germunts suchender Blick entdeckte eine Art Fensterladen an der Rückwand des Raumes.
     Als er ihn öffnen wollte, zerbrach ihm das Holz in den Fingern. Helles Tageslicht stach ihm entgegen, und Germunt brach so
     lange Holz heraus, bis er durch die Öffnung hindurchklettern konnte. Er stand in einem ummauerten Hof, auf dem das Unkraut
     bis zu den Knien wucherte. Eine Leiter lehnte an der Rückwand der Mauer, und auf ihrer obersten Sprosse hatte sich ein braungefiedertes
     Huhn ein Nest gebaut. Es blinzelte ihm ungläubig entgegen.
    Germunt lief einige Schritte und versuchte, auf das Dach zu blicken, ob Otmar noch zu sehen sei. Er konnte nur den Himmel
     sehen; von Otmars Gestalt keine Spur.
    Warum ist der Wolfsjäger nach Turin gekommen?
Germunt setzte vorsichtig einen Fuß auf die unterste Sprosse der Leiter. Als er das Gewicht verstärkte, brach sie durch. Einen
     Moment dachte er nach, dann arbeitete er sich mühselig hinauf, indem er auf die Randhölzer der Streben trat. Das Huhn keifte
     und flog auf; ein Ei zerschlug auf dem Boden. Die Mauer war schmal. Trotzdem versuchte Germunt, auf ihr stehenzubleiben und
     sich umzuwenden, um die Leiter hinaufzuziehen.
    »Spar dir die Mühe«, hörte er hinter sich eine Stimme. Beinahe wäre er vor Schreck hinabgefallen. »Verschwinden wir.«
    Ein aufgedunsenes Gesicht schaute von der anderen Seite der Mauer zu ihm herauf.
    »Wer ist ›wir‹?«
    »Du und ich, wer sonst? Mach hin, dein Jägerfreund kann die Büttel nicht den ganzen Tag aufhalten.«
    Germunt löste sich von der Leiter und ließ sich die Mauer hinab. Der andere wartete kaum, bis er sich aufgerichtet hatte.
     Er lief zügig, bog um Ecken und Winkel und schnitt dabei das Gemäuer der Ruinen, als sei es ein federnder Busch.
    |269| »Wohin gehen wir?«
    »In meine Höhle.«
    »Kennt Ihr den Wolfsjäger gut?«
    Schweigen.
    Bald erreichten sie ein altes Haus, das Germunts Führer ohne Umstände betrat. Sofort verstand Germunt, warum er es »Höhle«
     genannt hatte: Dort, wo einmal das erste Stockwerk gewesen war, ragten nur noch leere Balkengerippe aus dem Mauerwerk, und
     die rissigen Wände waren rußgeschwärzt. Es roch nach kaltem Rauch.
    »Wenn Ihr ihn nicht kennt, warum bringt Ihr mich dann hierher?«
    »Was weiß ich! Vielleicht, weil ich keine Lust habe, ständig auf den Dächern nach einem zielwütigen Jäger Ausschau zu halten?
     Vielleicht, weil ich der einzige in dieser Stadt bin, der dir noch den Hals retten kann? Ich weiß, wie man sich unsichtbar
     macht, und das zählt. Hör zu, ich kann endloses Gefrage nicht leiden. Bleib in meiner Höhle, und warte ab, bis sie dich vergessen
     haben, oder verschwinde. Der Jäger kann mir ja keinen Pfeil in die Brust jagen, nur, weil du meine Hilfe nicht annehmen wolltest.«
     Der Dickleibige fuhr sich über die Rippen.

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