Der Kalligraph Des Bischofs.
»Wolfsjäger … Wer’s glaubt.«
Morgenlicht fiel durch die verrotteten Fensterläden in das Haus. Germunt hatte es im stillen »Räuberhöhle« getauft, und vermutlich
war es das auch. Geldkatzen und leere Lederbeutel lagen zwischen dem Unrat, der den Boden bedeckte. Sein namenloser Gefährte
schlief jeden Tag bis in die Nachmittagsstunden und verließ ihn dann zu Tätigkeiten, die ihn erst spät in der Nacht zurückführten,
zumeist mit münzklingelnder Hose – es sei denn, er hatte seine Beute verpraßt, was nicht selten vorkam. Betrunken war der
Räuber immer.
Um so mehr erstaunte es Germunt, daß er ihn heute morgen nicht schnarchen hörte. Aufmerksam blickte er |270| sich um. Er war allein. Hatte er in der vergangenen Nacht überhaupt einen Heimkehrenden gehört? Er konnte sich nicht daran
erinnern.
Im Wassereimer sah Germunt in ein vollbärtiges, bleiches Gesicht. Er haßte den Anblick.
Wenn ich nicht bald wieder die Sonne sehe, krepiere ich. Und wenn ich dieses Haus verlasse, bevor der Bischof wieder da ist,
auch.
Vielleicht kehrte der Bischof nie zurück.
In einer plötzlichen Anwandlung nahm Germunt eine Tonscherbe und begann, sich den Bart aus dem Gesicht zu kratzen. Mit jedem
schmerzhaften Zug verfluchte er jemanden.
Ich hasse den Grafen. Ich hasse den Räuber. Ich hasse die Büttel. Ich hasse Turin.
Er mußte plötzlich an Stilla denken. War sie nicht der wahre Grund dafür, daß er noch hier war?
An den ersten Tagen hatte Germunt noch angespannt hinter den Fensterläden der Höhle gelauert, ungewiß, ob der Räuber ihn verraten
würde und jeden Moment Büttel in die Gasse einbogen. Aber er schien den Wolfsjäger tatsächlich zu fürchten. Obwohl er kaum
Worte mit Germunt wechselte, brachte er ihm das Nötigste an Nahrung. Ein wenig übergeschnappt war der Räuber mit Sicherheit.
Er sammelte Lumpenfetzen in einer Ecke der Höhle, »für das Alter«, wie er sagte, und an einer der Wände schichtete er Holz
auf, so viel, daß es für drei Winter reichen mußte. Einmal hatte er behauptet, die Höhle sei das Haus seiner Eltern gewesen
und gehöre ihm rechtmäßig. Auf Germunts Frage, was seine Eltern denn zum Lebensunterhalt getan hätten, hatte der Räuber die
Schultern gezuckt.
Germunt rückte sich den Eimer zurecht und betrachtete im zitternden Wasserbild sein wundes, bartloses Kinn. Er bemerkte eine
kleine Spinne, die am Eimer hinaufkletterte. Wie fein sich ihre Beine bewegten, winzige Pferdebeine. Sie erreichte den Eimerrand
und fing an, eine Runde darauf zu laufen.
Ich verstehe nicht, wie Frauen diese Tiere verabscheuen
|271|
können.
War sie nicht reizend, die kleine Läuferin? So zart gebaut und unbeirrbar, immer vorwärts eilend, auch wenn es schon die zweite
Runde auf dem Rand des Eimers war. Was hinderte das Tierchen eigentlich daran, endlos im Kreis zu laufen? Merkte es, daß es
diesen Weg schon einmal gelaufen war?
Germunt blickte vom Eimer auf. Wie riesig diese Höhle für die Spinne sein mußte! Eine ganze Welt, und sie sollte sich darin
zurechtfinden. Fand er sich denn in seiner Welt zurecht? Die Spinne hielt abrupt an und befühlte einen Wassertropfen mit den
kleinen Armen an ihrem Kopf. Dann verharrte sie, reglos. Germunt war, als sei er Zeuge eines Wunders: Die Spinne trank. Sie
kümmerte sich nicht darum, daß ein Wesen von der Größe eines Dämons neben ihr hockte, und sie fragte sich vermutlich auch
nicht, ob sie morgen und übermorgen genügend Futter finden würde.
Ich beneide die kleine Spinne,
ging es Germunt durch den Kopf.
Sie ist glücklich.
Allein war sie, wie er auch, und wie der Bischof, den sein eigener Freund verriet. Die Spinne und der Bischof jedoch hielten
ihr Leben fest in den Händen, ihm, Germunt, war es entglitten. War er seinem Traum vom eigenen Weinberg je ein Stück näher
gekommen?
Ein Abschnitt aus Claudius’ Schriften kam Germunt in den Sinn. Seit er ihn eines Tages entdeckt hatte, hatte er ihn wieder
und wieder gelesen: »Warum macht ihr euch selbst niedrig und verbeugt euch vor falschen Bildern? Warum krümmt ihr euren Körper,
gefangen vor lächerlichen Statuen und irdischen Abbildungen? Gott hat euch aufrecht geschaffen! Während andere Tiere bäuchlings
der Erde zugeneigt sind, habt ihr einen gehobenen Status und seid aufrecht, mit dem Gesicht zum Himmel und zu Gott. Seht aufwärts,
sucht Gott!«
Der Bischof hatte eine so andere Vorstellung vom Leben. An manchen Tagen hielt Germunt
Weitere Kostenlose Bücher