Der Kalligraph Des Bischofs.
um.
»Lauf nur!«
Er wedelte mit dem Schwanz, wie zur Verständigung, und lief dann den ersten Hügel hinauf, über den sich an langen Krückenreihen
die Reben zogen.
Man könnte fast meinen, Claudius ist verzweifelt. Er weiß nicht, wie er uns seine Befürchtungen deutlich machen soll.
Biterolf entsann sich eines älteren Mönches in Sankt Gallen, der einmal vor Wut Stockhiebe verteilt hatte, weil ein Schüler
in die Gitterschrift am Kopf einer Urkunde wiederholt kleine Buchstaben gemengt hatte. Der Schüler heulte damals laut; er
konnte es nicht besser.
Wovor hat Claudius eigentlich Angst? Warum will er nicht, daß das Volk die Bilder und das Kreuz anbetet? Fürchtet er wirklich,
daß wir Gottes Gebot übertreten? Oder meint er, das Volk vergißt, zum Herrgott selbst zu beten, weil es sich zuviel um die
Symbole kümmert?
Hinter der Hügelkuppe brach Farro in entrüstetes Knurren und Bellen aus. So tief grollte der Hütehund nicht ohne einen Grund.
|342| »Verschwinde! Sei ruhig!« war eine hohe Stimme zu hören.
Biterolf beeilte sich, den Hügel hinaufzukommen. »Farro, aus!« Die Luft wurde ihm knapp, er fühlte sich genötigt, in kurzen
Stößen zu atmen. Als er die Hügelkuppe erreicht hatte, sah er Farro mit angelegten Ohren und gefletschten Zähnen vor einem
kleinen Jungen stehen, der die dünnen Arme ausgebreitet hatte. »Geh weg«, rief er.
Biterolf schnaufte hinter Farro heran und packte ihn am Fell. »Nun sei – aber ruhig. – Der Junge – hat dir doch nichts getan.«
Der Hütehund winselte, schüttelte sich. Dann bellte er vielfach und begann wieder zu knurren.
»Sagt ihm bitte, daß er ruhig sein soll!« Der Junge sprach mit heller, feiner Stimme. »Er stört meinen Freund.«
»Warum bist du nicht in der Kirche?«
»Ich habe ihm versprochen, daß ich nicht weggehe, und daran halte ich mich.«
Jetzt erst erblickte Biterolf hinter dem Jungen ein Stück rotes Fell am Wegrand liegen. »Ganz ruhig, Farro«, sagte er streng
und drückte den Hütehund zu Boden.
Der Notar näherte sich vorsichtig, sich vergewissernd, daß Farro zurückblieb. Dort lag ein Fuchs mit blutverkrustetem Hals
im Schatten der Reben. Der Brustkorb hob und senkte sich rasch, und die Augen waren zu schmalen Schlitzen geschlossen. Das
Tier lag auf der Seite, die Beine von sich gestreckt.
»Was ist passiert?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe ihn so gefunden heute früh. Er will nichts fressen.« Zum Beweis hielt der Kleine dem Fuchs einen
alten Brotkanten vor die Schnauze.
»Komm, Junge, laß das arme Tier. Es braucht Ruhe.«
»Und er braucht einen Freund. Seht Ihr nicht? Er hat sich am Hals weh getan.«
Farro sprang auf und knurrte tief. Biterolf konnte sehen, wie der Fuchs zusammenfuhr.
|343| »Bitte, nehmt den Hund weg, das macht ihm angst.«
»Junge, willst du wirklich hierbleiben? Komm, gehen wir gemeinsam und lassen das Tier.«
»Nein. Er braucht mich. Ich bleibe bei ihm.«
Er wird ansehen müssen, wie das Tier stirbt.
Biterolf strich sich über den Nacken. Da er aber nicht wußte, was er noch tun konnte, um den Jungen von dem Fuchs fortzubekommen, packte
er Farro am Fell und zog ihn mit sich fort.
Kaum war der Junge außer Sichtweite, traf es Biterolf, als fiele ihm ein Mühlstein auf den Kopf.
Ist es nicht dasselbe mit Claudius? Ob er nun rechtens oder unrechtens ketzerische Lehren predigt, er braucht gerade jetzt
meine Unterstützung. Kann ich ihn mit der Wunde, die er sich selbst zugefügt hat, im Stich lassen? Im Grunde tut er nichts
anderes, als ich all die Jahre getan habe: Er folgt seiner Erkenntnis der Wahrheit.
Über einen großen Umweg durch die Weinberge kehrte Biterolf nach Turin zurück. Er fand eine Stadt vor, in der jeder die Predigt
des Bischofs kannte, war er nun in der Kirche dabeigewesen oder nicht; wo auch immer Turiner sich zum Gespräch zusammengefunden
hatten, erörterten sie die verrückten Gedanken, die Claudius an jenem Morgen geäußert hatte. Biterolf hörte eine Gruppe von
Männern mutmaßen, was mit der zerstörten Kirche passieren würde und ob es den anderen Kirchen der Stadt über kurz oder lang
ähnlich erginge. Eine junge Frau behauptete steif und fest vor ihren Nachbarinnen, sie hätte einen Dienstmann des Bischofs
gesehen, der vergoldete Heiligenfiguren zur Schmiede brachte, um das wertvolle Metall einzuschmelzen.
Einmal, nicht weit vom Bischofshof, wurde Biterolf gar selbst angesprochen. Ein grauhaariger Mann mit wasserblauen
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