Der Kalligraph Des Bischofs.
verlassen. Gut,
daß er hinter dem Gebirge nach Westen abbiegen konnte.
In jener Nacht entschloß er sich, den Paß des Mont Cenis auf kleinen Pfaden zu umgehen. Im Morgengrauen fand er einen Viehtreiberweg,
der von der Handelsstraße abbog, und folgte ihm. Der Schmerz wanderte mit.
Mühsam vergingen die Tage. Germunt hätte gern die großen Schlaufen des Weges abgekürzt, aber er konnte mit seinem steifen
Bein nicht den Hang hinabschlittern und auf der anderen Seite wieder emporklettern. Im ersten einsamen Bergbauerngehöft mußte
er sich zwei Wochen ausruhen, bis er weiterhinken konnte. Immer wieder kehrte er auf seinem Weg in solchen Gehöften ein und
gelangte auf diese Weise in die höheren Regionen der Berge.
Eines Morgens nach einer Nacht im Freien erwachte er von rupfenden, knirschenden Geräuschen dicht an seinem |152| Ohr. Er riß die Augen auf und sah auf das schwarze Maul einer Ziege, die, noch kauend, ebenfalls den Kopf hob und ihn mit
ihren Ziegenaugen anstarrte. In diesen Augen lag eine dunkle Weltscheibe, flach wie der Horizont, umgeben von dottergelber
Tiefe. Das Tier schien ihn nicht zu fürchten; seine Nase weitete sich, als nähme es Witterung auf, aber es stand fest auf
seinem Platz.
Germunt machte eine Bewegung mit dem Arm, in der Vermutung, daß die Ziege nun in Sprüngen den Ort verlassen würde. Sie öffnete
jedoch nur ihr Maul zu einem schmalen Spalt und stieß ein Meckern aus.
»Weißt du, daß wir euch schlachten, um auf eurer Haut zu schreiben?«
Ungerührt stand sie da.
Germunt dachte nach. »Sag bloß, du hast es auf das bißchen Gras abgesehen, auf dem ich liege!« Als er aufstehen wollte, stellte
er fest, daß die Ziege mit einem Huf auf Biterolfs Mantel stand. Da mußte er lachen. »Den Mantel kann ich dir hier nicht liegenlassen,
es ist so schon kalt genug. Außerdem, wie willst du an das Gras herankommen, wenn er darüber ausgebreitet ist?« Er zog einmal
kräftig, um sich zu befreien, und stand auf.
Anstatt sich dem entblößten Futter zu widmen, starrte das Tier ihn weiter an.
»Hast du noch nie einen Menschen gesehen, oder was? Jetzt hör auf zu starren, tu etwas Sinnvolles! Du gehörst doch jemandem.«
Germunt suchte nach einem Halsband oder einem Brandzeichen. Die Ziege hatte vier große braune Flecken auf ihrem Rücken, aber
nirgends konnte er ein Zeichen menschlicher Besitznahme erkennen. »Auch wilde Ziegen haben keinen Tag zu vergeuden. Also auf!«
Da das Tier keine Anstalten machte, sich irgendwie zu bewegen, zuckte Germunt mit den Schultern, langte nach dem faltigen
Leinensack, der bis auf etwas Käse und Brot leer war, und machte sich daran, seinen Weg fortzusetzen. Die Ziege folgte ihm
schweigend.
|153| Blieb Germunt stehen, so blieb auch sie stehen, lief er, so nickte sie jedem Schritt mit ihrem Kopf hinterher und ließ nie
mehr als zwei Ziegenlängen Abstand zu ihm.
»Ich habe nichts für dich«, versuchte Germunt ihr klarzumachen. Sie antwortete mit einem besserwisserischen Meckern.
Irgendwann fügte sich Germunt in die Lage und kümmerte sich nicht weiter um seine Begleiterin. Nur einmal stach es ihn, sie
auf die Probe zu stellen, und er blieb für eine halbe Ewigkeit reglos stehen. Sein Bein, das allmählich verheilte, pulsierte.
Die Ziege schien ihm für diesen Versuch nicht böse zu sein, lief aber auch nicht weiter. Sie glotzte herausfordernd, als sei
das Ganze ein Spiel, das sie hervorragend beherrsche.
Zwei Tage vergingen mit gemeinsamer Wanderung. Je höher sie hinaufkamen, desto kälter wurde es. Kaum war noch Gras oder Gestrüpp
für die Ziege vorhanden, das nicht von Schnee bedeckt war. Auch Germunt mußte hungrig laufen, um sich ein wenig Proviant für
die kommenden Tage aufzubewahren, in denen er keiner Menschenseele begegnen würde. Der Viehweg war längst zu einem wilden
Pfad geworden.
»Was meinst du«, fragte Germunt seine Begleiterin, »ist das hier ein Weg, dem nur die Gemsen folgen? Wir Menschen überqueren
die Alpen sicher nicht auf so beschwerliche Weise. Kennst du überhaupt einige Gemsen? Ihr müßtet doch verwandt sein?«
Seine Weggefährtin glotzte und blieb die Antwort schuldig.
Es kamen die Tage, in denen Germunt nur eisern Fuß vor Fuß setzte. Es wechselten sich immer ein starker und ein schwacher
Schritt ab; der eine mit dem beweglichen, der andere mit dem steifen Bein. Der Bergwind pfiff ihm in den Ohren, feiner, aufgewirbelter
Schnee setzte sich beißend in
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