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Der Kalligraph Des Bischofs.

Der Kalligraph Des Bischofs.

Titel: Der Kalligraph Des Bischofs. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Kragen und Ärmel, und ein falscher Schritt konnte ihn das |154| Leben kosten. Mitunter ging es an einer Seite des Gebirgspfades steil in den Himmel hinauf, so wie der Blick an der anderen
     Seite gnadenlos in die Tiefe stürzte. Germunt staunte immer wieder, mit welcher Selbstverständlichkeit die Ziege über das
     Geröll kletterte. Hier und da knabberte sie an einem niedrigen Gestrüpp oder einer Flechte. Sie war dünn geworden. Abends
     aßen sie gemeinsam Schnee.
    Germunt hörte auf, vor sich hin zu fluchen, wenn das steife Bein ihn beim Klettern behinderte. Er wurde ganz still. Das Gebirge
     war nicht sein Feind, es war genauso ein Krüppel wie er, hatte ein verzerrtes Gesicht und karge, ausgetrocknete Lippen.
    Irgendwann bemerkte Germunt, daß die größten Berggipfel hinter ihm lagen, während es vor ihm nur noch mittlere Gebirgszüge
     gab. »Ich hoffe, du warst dir sicher, daß du auf diese Seite der Alpen wolltest«, war seit langer Zeit das erste Wort, das
     er an die Ziege richtete.
    Die Ziege kam näher, als hätte er sie zu sich gerufen, und blieb nur eine Handbreit vor ihm stehen. Ihre Nasenöffnungen weiteten
     sich.
    Als das erste Bauerngehöft in Sichtweite kam, machte Germunts knurrender Magen einen Satz. Mit kraftvollen Schritten lief
     er auf die Gebäude zu, bis er hinter sich die Ziege rufen hörte. Es klang verzweifelt, als würde sie in einer Falle festhängen.
     Er drehte sich um und rief: »Was ist los?« Da stand sie, die Weggefährtin, und stakste einige Huftritte zur Seite; eine unsichtbare,
     aber unüberwindbare Mauer schien sie am Weiterlaufen zu hindern.
    »Du fürchtest dich?«
    Sie antwortete mit einem kärglichen Meckern.
    Germunt seufzte. Er lief zurück, und als er sie fast erreicht hatte, riß er eine Handvoll Gras aus und streckte sie ihr entgegen.
     »Komm, meine Gute, komm.«
    Die Ziege stand still, reckte den Kopf höher.
    »Du kannst nicht, richtig?« Germunt nickte einige Male. »Ich verstehe.« Er trat ganz an sie heran, hielt das Gras vor |155| ihren Kopf. Beinahe zärtlich kräuselte sie die Lippen und klaubte die Halme aus seiner Hand. »Lebe wohl. Hab Dank für deine
     treue Begleitung.«
    Wieder in Richtung der Gebäude gehend, wendete sich Germunt alle paar Schritte um. Die Ziege stand unverändert da und sah
     ihm mit ewigen Blicken nach.
     
    »Ich habe hier ein Schreiben«, begann er an der Tür, wurde aber sofort von der alten Frau unterbrochen.
    »Meint Ihr, ich kann lesen?«
    »Verzeiht. Ich bin am Verhungern und wollte fragen –«
    Nun lachte sie. »Ich will Euch gern etwas geben. Fragt nur noch rasch meinen Mann. Er mäht Gras, dort auf der Seggehangwiese.«
     Die Frau wies ihm eine Richtung. »Viel leicht könnt Ihr auch eine Nacht bleiben. Er hätte sicher nichts dagegen, wenn ihm morgen früh jemand bei der Arbeit hilft.«
    Germunt sah an dem Stock hinunter, auf den er sich stützte. »Ich habe ein … Mein Bein ist nicht in Ordnung.«
    Die Frau tat, als hätte sie es nicht gehört. Sie zeigte noch einmal über die Wiesen. »Dort, er mäht Gras.«
    In der empfohlenen Richtung fand Germunt einen älteren Mann, dessen graue Haare sich von einem braungebrannten Gesicht abhoben.
     In kräftigen Schwüngen bewegte er eine mehr als mannshohe Sense durch das Gras.
    Dieses Mal war Germunt schlauer. »Guter Mann, kann ich Euch helfen? Ich würde mir gern ein wenig Brot verdienen. Ich habe
     aber ein –«
    »Euch schickt der Himmel!« Der Senner unterbrach lächelnd seine Arbeit.
     
    Germunt blieb drei Tage bei dem alten Paar, und als er wieder aufbrach, war der Schmerz auf beiden Seiten groß. Dem grauen
     Senner wurden die Augen feucht, als er Germunt verabschiedete, und die Bäuerin hatte ihm seinen Leinensack so voll gepackt,
     daß er ihn kaum tragen konnte. |156| Sie nahmen ihm das Versprechen ab, daß er auf dem Rückweg wieder eine Weile bei ihnen bleiben würde.
    Obwohl er durch sein Begleitschreiben während der folgenden Tage in Klöstern und Herbergen bereitwillig aufgenommen wurde,
     war es nie wieder eine so herzliche Rast wie bei den Sennbauern. An manchen Orten beobachtete man den Hinkenden mißtrauisch,
     als fürchte man, er könne einen schlechten Bericht abgeben bei den Herren, mit denen er ja augenscheinlich in Kontakt stand.
     Anderswo wieder ignorierte man ihn völlig, wie eine Fliege, die man nicht fortscheucht, solange sie ruhig sitzt.
    Es erwies sich als schwierig, Abt Theodemir zu finden. In Psalmody schickte man Germunt Richtung

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