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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Lemaitre
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in hohem Bogen raus!«
    Danach war der Tag die normale Hölle; aufwischen, abräumen, triefender Ketchup, der Gestank von heißem Öl, überquellende Mülleimer, hin und her eilen auf dem rutschigen Fliesenboden mit umgekippter Cola. Und fast sieben Stunden später merkt Sophie, ganz in Gedanken, dass ihr Dienst seit über zwanzig Minuten zu Ende ist. Ihr macht es nichts aus, dass sie unabsichtlich länger gearbeitet hat, sie fragt sich vor allem, wie es nun weitergeht. Denn in diesem ganzen Trubel hat sie ständig an das Zusammentreffen mit dem Mann und an den Zahlungstermin gedacht, den er ihr genannt hat. Jetzt oder nie. Ihr Plan funktioniert. Alles nur noch eine Frage des Geldes und des Fingerspitzengefühls. Was das Fingerspitzengefühl angeht, weiß sie seit ihrem Besuch in der Agentur, was sie machen wird. Was das Geld angeht, so fehlt ihr noch ein bisschen. Nicht viel. Knapp tausend.
    Sie geht in die Garderobe, hängt ihren Kittel auf, räumt die Schuhe weg und betrachtet sich im Spiegel. Sie sieht so erschöpft aus wie alle Schwarzarbeiter. Fettige Haarsträhnen fallen ihr ins Gesicht. Als Kind konnte sie sich manchmal im Spiegel tief in die Augen sehen, und dann überkam sie ein so tranceartiger Schwindel, dass sie sich am Waschbeckenfesthalten musste, um nicht zu fallen. Das war ein bisschen so, als würde man in den unbekannten Teil eintauchen, der in einem schlummert. Sie fixiert einen Moment lang ihre Pupillen, bis sie nichts anderes mehr sieht, aber noch bevor sie sich in ihren eigenen Anblick versenken kann, ertönt direkt hinter ihr die Stimme des Chefs: »So schlecht siehst du doch gar nicht aus …«
    Sophie dreht sich um. Er steht in der Tür, die Schulter an den Türpfosten gelehnt. Sie streicht eine Strähne zurück, die ihr vor die Augen gefallen ist. Sie hat keine Zeit nachzudenken, die Worte kommen von ganz allein: »Ich brauche einen Vorschuss.«
    Lächeln. Ein unbeschreibliches Lächeln, in dem sich alle Siege der Männlichkeit ausdrücken, selbst die düstersten.
    Â»Soso!«
    Sophie lehnt sich ans Waschbecken und verschränkt die Arme.
    Â»Tausend.«
    Â»Ach ja? Tausend. Sonst noch ’n Wunsch?«
    Â»Das ist fast so viel, wie mir noch zusteht.«
    Â»Am Monatsende steht's dir zu. Kannst du nicht warten?«
    Â»Nein, kann ich nicht.«
    Â»Aha.«
    Eine Weile stehen sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber, und in den Augen dieses Mannes findet sie das, was sie kurz zuvor im Spiegel gesucht hatte, diesen Schwindel; aber er hat überhaupt nichts Persönliches mehr. Ihr ist einfach nur schwindelig, und das schmerzt am ganzen Körper, fährt ihr bis in den Bauch hinein.
    Â»Und?«, fragt sie, um wieder zu sich zu kommen.
    Â»Wir werden sehen … Wir werden sehen …«
    Der Mann blockiert den Ausgang; Sophie sieht wieder vor sich, wie sie einige Monate zuvor vor der Tür der Bankfiliale stand … Das widerliche Gefühl eines Déjà-vu. Aber da ist auch noch etwas anderes.
    Sie will den Raum verlassen, aber der Mann packt sie am Handgelenk.
    Â»Müsste sich einrichten lassen«, sagt er und betont jede einzelne Silbe. »Morgen Abend kommst du zu mir, nach deiner Schicht.«
    Dann legt er Sophies Hand auf seinen Unterleib und fügt hinzu: »Mal sehen, was ich machen kann …«
    Genau das ist der Unterschied. Die Karten liegen offen, es ist kein Versuch, sie zu verführen, sondern die Bekräftigung einer Machtposition, ein konkreter Handel zwischen zwei Personen, die dem jeweils anderen das geben können, was er verlangt. Ganz einfach. Doch Sophie ist überrascht. Seit zwanzig Stunden ist sie auf den Beinen, seit neun Tagen hat sie nicht mehr frei gehabt, sie schläft wenig, um ihren Alpträumen zu entkommen, sie ist erschöpft, ausgepumpt, sie will es zu Ende bringen, ihre letzte, allerletzte Kraft bringt sie für ihren Plan auf. Sie muss all das hinter sich lassen, jetzt, egal um welchen Preis, es wird sie auf jeden Fall nicht so viel kosten wie dieses Leben hier, in dem sie sich verzehrt bis auf den Kern ihrer Existenz.
    Es ist keine bewusste Entscheidung; einfach so öffnet sie die Hand und packt den erigierten Penis des Mannes in der Hose. Sie blickt ihm in die Augen, aber sie sieht ihn nicht. Sie hält nur seinen Schwanz. Besiegelt den Deal.
    Als sie in den Bus steigt, wird sie sich darüber klar, dass

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