Der kalte Hauch der Angst
sie ihm auch einen geblasen hätte, wenn es hätte sein müssen. Sie spürt nichts bei diesem Gedanken. Nur eine Feststellung, nichts weiter.
Sophie verbringt die ganze Nacht rauchend am Fenster. Ganz unten auf dem Boulevard sieht sie den Schein der StraÃenlaternen und stellt sich die Prostituierten vor, wie sie im Schatten der Bäume vor Männern knien, die ihren Kopf halten und in den Himmel blicken.
Durch welche Gedankenverbindung ist ihr die Szene im Supermarkt wieder in den Sinn gekommen? Die Hausdetektive hatten Waren auf einen Edelstahltisch gelegt, die sie nicht gekauft hatte, aber dennoch aus ihrer Tasche gezogen wurden. Sie versuchte, deren Fragen zu beantworten. Sie wollte nur, dass Vincent nichts davon erfährt.
Wenn Vincent erfährt, dass sie verrückt ist, lässt er sie einweisen.
Bei einem Gespräch mit Freunden vor langer Zeit hatte er gesagt, dass er, »hätte er so eine Frau«, sie einweisen lassen würde. Er hatte gelacht, es war natürlich ein Scherz, aber sie konnte es nie wieder vergessen. Damals hat sie die Angst gepackt. Vielleicht war sie schon zu verrückt gewesen, um die Dinge noch auseinanderzuhalten, um diese Aussage als das zu sehen, was sie war, nämlich ein Witz. Monatelang hat sie immer wieder daran gedacht: Wenn Vincent merkt, dass ich verrückt bin, lässt er mich einweisen.
Um sechs Uhr früh steht sie von ihrem Stuhl auf, duscht sich. Dann legt sie sich noch eine Stunde hin, bevor sie zur Arbeit geht. Sie weint leise und starrt an die Decke.
Es ist wie unter Narkose. Irgendetwas in ihr handelt, ihr ist, als hocke sie in ihrer körperlichen Hülle wie in einem Trojanischen Pferd. Das Pferd handelt ohne sie, es weiÃ, was es zu tun hat. Sie, sie muss nur warten und sich fest die Ohren zuhalten.
12
J EANNE HAT AN DIESEM M ORGEN schlechte Laune, aber als sie Sophie sieht, ist sie bestürzt.
»Was ist denn mit dir los?«, fragt sie.
»Nichts. Warum?«
»Du siehst vielleicht aus!«
»Ja«, sagt Sophie, geht in die Garderobe und nimmt ihren Kittel, »hab nicht gut geschlafen.«
Merkwürdigerweise ist sie nicht müde, sie fühlt sich nicht erschöpft. Das kommt vielleicht später. Sofort macht sie sich im hinteren Raum ans Scheuern.
Mechanisch. Du legst den Lappen in den Eimer. Du denkst nicht nach. Du wringst ihn aus und breitest ihn auf dem Boden aus. Wenn der Lappen kalt ist, tauchst du ihn wieder in den Eimer und fängst von vorne an. Du denkst nicht nach.
Du leerst die Aschenbecher, du wischst sie schnell aus, stellst sie wieder auf die Tische. Gleich wird Jeanne kommen und sagen: »Du machst ja ein Gesicht!« Aber du wirst nicht antworten. Du hast sie nicht richtig verstanden. Du machst eine vage Handbewegung. Du sprichst nicht. Du denkst nur an die Flucht, die du in dir knistern spürst, die bitternötige Flucht. Es werden Bilder kommen, immer wieder Bilder, Gesichter, du wirst sie verjagen wie Fliegen, während du diese Haarsträhne zurückstreichst, die dir ständig ins Gesicht fällt, wenn du dich bückst. Automatisch. Danach gehst du in die Küche, in den Fritteusengestank. An dir streift jemand vorbei. Du blickst auf, es ist der Chef. Du gehst weiter deiner Arbeit nach. Mechanisch. Du weiÃt, was du willst: weggehen. Schnell. Also arbeitest du. Du tust, was dazu nötigist. Du tust alles, was dazu nötig ist. Reflexartig. Schlafwandlerisch. Du rührst dich, du wartest, du wirst weggehen. Du musst unbedingt weggehen.
Die StoÃzeit ist gegen elf Uhr abends zu Ende. Dann sind alle erschöpft, und der Wirt hat die schwere Aufgabe, seine Truppe noch einmal zu mobilisieren, damit für den nächsten Tag alles vorbereitet ist. Also geht er durch alle Räume: in die Küche, die Säle, und ruft: »Mach mal hin, wir wollen ja nicht die ganze Nacht hier verbringen!«, oder: »Beweg jetzt deinen Arsch, verdammt!« Und so ist gegen halb zwölf alles fertig. In gewisser Weise eine Wissenschaft des Geschäftsführers.
Dann verlassen alle schleunigst das Lokal. Einige bleiben noch vor der Tür stehen, rauchen eine Zigarette und plaudern, bevor sie nach Hause gehen. Dann macht der Chef eine letzte Runde, schlieÃt die Türen ab und schaltet die Alarmanlage ein.
Nun sind alle weg. Sophie schaut auf ihre Armbanduhr und stellt fest, dass sie fast richtig geht. Sie ist um halb zwei verabredet. Sie geht in die Garderobe, räumt ihren
Weitere Kostenlose Bücher