Der kalte Hauch der Angst
meine Turteltäubchen übers Wochenende weg, manchmal machen sie auch in der Woche einen ganzen Tag frei. Ich weià nicht, wohin sie fahren. Es ist eigentlich nicht mehr die Jahreszeit, um noch Ausflüge aufs Land zu unternehmen. Gestern habe ich also beschlossen, ihnen zu folgen.
Am Morgen wachte ich sehr früh auf. Das Aufstehen fällt mir schwer, denn zurzeit schlafe ich nicht gut, ich habe aufregende Träume und erwache zerschlagen. Ich tankte das Motorrad auf. Als ich sah, wie Sophie die Vorhänge zuzog, hielt ich mich an der StraÃenecke bereit. Punkt acht Uhr verlieÃen sie das Haus. Ich musste eine ganze Schatzkiste an Tricks aufwenden, um nicht entdeckt zu werden. Ich musste sogar einige Risiken auf mich nehmen. Und all das für nichts und wieder nichts! Kurz vor der Auffahrt zur Autobahn schob sich Vincent zwischen zwei Autos, um noch bei Gelb über die Kreuzung fahren zu können. Automatisch raste ich ihm nach, doch das war leichtsinnig, denn ich hatte keine Zeit mehr zu bremsen, um nicht auf seinen Wagen aufzufahren, also musste ich schlagartig die Lenkstange herumreiÃen, verlor die Kontrolle über das Motorrad, es kippte,und ich schlitterte damit ein paar Meter über die StraÃe. Ich konnte nicht sagen, ob ich verletzt war, mir nur die Knochen weh taten â¦Â Ich hörte, wie der Verkehr zum Stillstand kam, als sähe ich einen Film und jemand stellte abrupt den Ton ab. Ich sollte eigentlich kaputt sein, völlig fertig von dem Schreck, aber ich war im Gegenteil bei klarstem Bewusstsein. Ich sah, wie Vincent und Sophie ausstiegen und zusammen mit anderen Fahrern, anderen Schaulustigen zu mir gerannt kamen, eine ganze Horde stürzte sich auf mich, noch bevor ich aufstehen konnte. Ich spürte, wie ungeahnte Kräfte mich durchdrangen. Während die Ersten sich über mich beugten, gelang es mir, unter dem Motorrad hervorzukriechen. Ich stand auf und sah mich Vincent gegenüber. Ich trug noch immer meinen Helm, das Plexiglasvisier war heruntergeklappt, ich sah ihn direkt vor mir. »Besser, Sie bewegen sich nicht«, sagte er. Neben ihm Sophie mit besorgtem Blick, halb offenem Mund. Noch nie hatte ich ihn aus solcher Nähe gesehen. Alle redeten, alle gaben mir Ratschläge, die Polizei würde kommen, ich solle besser meinen Helm abnehmen, solle mich setzen, das Motorrad sei weggerutscht, ich wäre zu schnell gefahren, nein, der Wagen wäre auf einmal von der Fahrbahn abgekommen. Vincent legte mir die Hand auf die Schulter. Ich drehte mich um und sah mein Motorrad. Als ich bemerkte, dass der Motor noch lief, machte es klick. Es schien keinen anderen Ausweg zu geben, ich machte einen Schritt auf das Motorrad zu, und zum zweiten Mal hatte jemand den Ton abgedreht. Plötzlich verstummten alle und fragten sich, warum ich einen Mann in einem schmutzigen T-Shirt wegschob und mich über mein Motorrad beugte. Und da begriffen alle, dass ich es wieder auf die Räder stellen wollte. Wieder ertönten Kommentare, noch mehr, noch lauter. Einige schienen sich mir sogar inden Weg stellen zu wollen, aber das Motorrad stand schon wieder. Mir war eiskalt, ich hatte das Gefühl, dass mein Blut aufgehört hatte zu flieÃen. In wenigen Sekunden war ich bereit zur Flucht. Doch ich musste mich unbedingt noch einmal zu Sophie und Vincent umdrehen, die mich verdutzt anschauten. Meine Entschlossenheit schien ihnen Angst zu machen. Unter den Rufen der Leute fuhr ich davon.
Nun kannten sie mein Motorrad, meine Kleidung, ich musste alles austauschen. Erneut Ausgaben. In ihrer Mail an Valérie vermutet Sophie, dass der Biker abgehauen ist, weil er das Motorrad gestohlen hatte. Ich hoffe nur, dass ich mich unauffällig verhalten kann. Diese Episode hat sie schockiert, und in der nächsten Zeit werden sie nun aufmerksamer auf Motorradfahrer achten.
22. September
Mitten in der Nacht wachte ich schweiÃgebadet auf, die Brust war mir eng, ich zitterte am ganzen Körper. Nicht weiter überraschend, nachdem ich gestern solche Angst gehabt hatte. In meinem Traum stieà Vincent mit meinem Motorrad zusammen. Ich flog über den Asphalt, mein Overall verfärbte sich, er wurde ganz weiÃ. Man muss nun wirklich kein Genie sein, um die zugrundeliegende Symbolik darin zu erkennen: Morgen ist Mamas Todestag.
23. September
Seit einigen Tagen fühle ich mich bedrückt und betrübt. In meiner Nervosität und in meinem derart geschwächten
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