Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Lemaitre
Vom Netzwerk:
wiederzuerlangen, ich habe das Motorrad hoch- und herumgerissen und befand mich vor ihm. Er sah schon vor sich, wie ich mit ihm zusammenstoße, schlug unkontrolliert das Lenkrad ein und …
    Die Katastrophe war absehbar. Sein Wagen drehte sich, die Reifen rutschten über die Böschung, das war der Anfang vom Ende. Das Auto schien nach rechts, dann nach links zu schlingern, der Motor heulte auf, und es gab einen entsetzlichen, blechernen Rums, als er gegen den Baum prallte: Der Wagen klebte regelrecht am Baum, stand nur noch auf den Hinterrädern.
    Ich stieg ab und lief zum Wagen. Trotz des heftigen Regens fürchtete ich, der Wagen könne in Brand geraten, ich wollte mich beeilen, ging zur Fahrertür. Vincents Oberkörper war zwischen Armaturenbrett und Sitz eingeklemmt. Ich hatte den Eindruck, der Airbag sei aufgegangen, ich wusste nicht, dass das möglich war. Ich weiß nicht, warum ich das getan habe, sicherlich wollte ich mich vergewissern, dass er tot war. Ich klappte das Visier meines Integralhelms auf, packte Vincent an den Haaren und drehte seinen Kopf zu mir. Sein Gesicht war blutüberströmt, aber so etwas hätte sich keinervorstellen können: Seine Augen standen weit offen, er starrte mich an. Dieser Blick lähmte mich … Der strömende Regen prasselte in die Fahrerkabine, Vincents Gesicht war voller Blut, und er fixierte mich mit einem so durchdringenden Blick, dass mich wirklich das Grauen gepackt hat.
    Wir sahen einander lange in die Augen. Ich ließ seinen Kopf los, der schwer auf die Seite fiel, und ich schwöre Ihnen, seine Augen waren noch immer offen. Diesmal aber starrten sie anders. Als wäre er endlich tot. Ich rannte weg und fuhr wie der Blitz davon. Kurz darauf kam mir ein Auto entgegen, im Rückspiegel sah ich die Bremslichter aufleuchten …
    Vincents Blick, der sich buchstäblich in meinen gebohrt hatte, raubte mir den Schlaf. Ist er denn nun endlich tot? Wenn nicht: Wird er sich an mich erinnern? Wird er die Verbindung zu dem Motorradfahrer herstellen, den er vor einiger Zeit abgedrängt hat?
    25. Mai
    Ãœber Sophies Mails an ihren Vater halte ich mich auf dem Laufenden. Er wollte sie unbedingt besuchen, aber sie will nicht. Sie sagt, sie müsse allein sein. Sie ist vollauf mit ihrem eigenen Leben beschäftigt …
    Vincent wurde sehr schnell nach Garches verlegt. Ich kann es gar nicht abwarten, Neues zu erfahren. Ich habe keine Ahnung, wie sich die Dinge nun weiterentwickeln werden. Aber ein bisschen beruhigt bin ich schon. Vincent geht es schlecht. Man könnte auch sagen: sehr schlecht.
    30. Mai
    Ich musste Vorkehrungen treffen, ansonsten lief ich Gefahr, Sophie zu verlieren. Jetzt weiß ich immer, wo sie ist, das ist sicherer.
    Ich sehe sie an: Man würde nicht meinen, dass sie schwanger ist. Es gibt solche Frauen; bei denen sieht man bis zum Schluss fast nichts.
    5. Juni
    Das musste ja so kommen. Sicherlich die Häufung: all die Monate der Anspannung und Prüfungen, und dass in den letzten Wochen alles Schlag auf Schlag ging, Laures Verleumdungsklage, Vincents Unfall … Gestern ist Sophie mitten in der Nacht weggefahren; das ist nicht normal. Nach Senlis. Ich fragte mich, was das mit Vincent zu tun haben konnte. Nichts. Sophie hatte eine Fehlgeburt. Ohne Zweifel zu viel emotionaler Aufruhr.
    7. Juni
    Letzte Nacht ging es mir sehr schlecht. Eine unerklärliche Angst riss mich aus dem Schlaf. Die Symptome habe ich sofort erkannt. Wenn es um Mutterschaft geht, passiert mirdas. Nicht immer, aber oft. Wenn ich von meiner eigenen Geburt träume, mir Mamas erschöpftes Gesicht vorstelle. Sie fehlt mir so schmerzlich.
    8. Juni
    Vincent wurde gerade zur Reha ins Sainte-Hilaire-Hospital verlegt. Die Nachrichten sind noch erschreckender, als ich dachte. Er dürfte in ungefähr einem Monat entlassen werden.
    22. Juli
    Seit einiger Zeit habe ich Sophie nicht mehr gesehen. Sie hat eine Spritztour zu ihrem Vater gemacht. Sie blieb nur vier Tage. Danach fuhr sie gleich nach Garches zu Vincent.
    Ehrlich gesagt, es gibt keine guten Nachrichten … Ich kann es gar nicht erwarten, das zu sehen.
    13. September
    Mein Gott! Ich bin immer noch ganz durcheinander.
    Ich habe damit gerechnet, aber so was …! Aus Sophies Mail an ihren Vater wusste ich, dass Vincent heute Morgenentlassen werden sollte. Am Morgen habe ich meine Stellung im Park der Klinik, auf der Nordseite, bezogen, wo ich das

Weitere Kostenlose Bücher