Der kalte Hauch der Angst
Handwerker kommen lassen, der eine Rampe hochgezogen und ein Schutzgeländer an den Stellen, die Vincent erreichen kann, angebracht hat. Sophie weià nicht, wie Vincent das anstellt, aber er kommt sogar in die Küche. Immer wieder gelingt es ihm, Gegenstände zu ergreifen, was sehr gefährlich sein kann, oder er fängt an zu brüllen. Sie eilt zu ihm, aber sie versteht einfach nicht, warum er sich auf einmal so verhält. Vincent kennt mich mittlerweile gut. Immer wenn ich komme, reiÃt er die Augen auf und stöÃt Knurrlaute aus. Er hat natürlich Angst, ist sehr verletzlich.
Sophie schildert Valérie ihre Missgeschicke (Valérie verspricht immer zu kommen, kann sich aber wie aus Zufall nie dazu entschlieÃen). Sophie hat ihre Angst kaum noch im Griff, sie stopft sich mit Tabletten voll, weià nicht, was sie nun tun soll. Sie fragt ihren Vater um Rat, bittet Valérie um Rat, stundenlang surft sie im Internet und sucht Häuser, eine Wohnung, sie weià wirklich nicht mehr, wo sie steht â¦Â Valérie, ihr Vater, alle raten ihr, Vincent in ein Heim zu geben, aber darüber ist mit ihr nicht zu reden.
19. Dezember
Die zweite Haushaltshilfe wollte auch nicht bleiben. Sie wollte auch keine Gründe dafür angeben. Sophie fragt sich, wie sie weitermachen soll, die Agentur hat ihr geschrieben, dass es schwierig sei, Frauen zu finden.
Ich wusste nicht, ob ihr Mann noch Regungen hatte, ob er noch normal funktionierte, und wenn ja, wie sie es anstellten. Es ist wirklich zu dumm. Gut, Vincent hatnatürlich nicht mehr diesen energiegeladenen und verführerischen Charme vom letzten Jahr, den Charme ihrer (allzu) berühmten Ferien in Griechenland. Sophie tut ihm eben diesen kleinen Gefallen. Sie gibt sich Mühe, aber man merkt dennoch, dass sie nicht so ganz bei der Sache ist. Jedenfalls weint sie währenddessen nicht. Erst danach.
23. Dezember
Eine ziemlich traurige Weihnachtszeit, zumal es auch noch der Todestag von Vincents Mutter ist.
25. Dezember
Der erste Weihnachtstag! Im Wohnzimmer ist Feuer ausgebrochen. Doch Vincent war die Ruhe selbst, er döste. Innerhalb weniger Minuten hatte der Weihnachtsbaum Feuer gefangen, die Flammen loderten hoch empor. Sophie konnte gerade noch Vincents Rollstuhl wegziehen â er brüllte wie ein Verdammter â und Wasser über die Tanne schütten, bevor sie die Feuerwehr rief. Der Schaden war gering, sie kam noch mal mit dem Schrecken davon, aber sie hatte wirklich groÃe Angst. Selbst die wohlmeinenden Feuerwehrleute, denen sie in der feuchten Schwüle dessen, was vom Wohnzimmer übrig geblieben war, einen Kaffee angeboten hat, rieten ihr in aller Freundlichkeit, Vincent ins Heim zu geben.
9. Januar 2002
Sie musste sich nur dazu entschlieÃen. Ich lasse die Post der Behörden zu Sophie durch. Sie hat ein Heim in einem Vorort von Paris gefunden. Vincent wurde ordentlich aufgenommen, er hatte eine gute Zusatzversicherung. Sie hat ihn begleitet, hat sich neben seinen Rollstuhl gekniet und ihm die Hand gehalten, hat leise mit ihm gesprochen und ihm die Vorteile dieser Veränderung vor Augen gehalten. Er brummt Unverständliches. Kaum ist sie allein, weint sie.
2. Februar
Ich habe den Druck ein wenig von Sophie genommen, bis sie ihr Leben wieder strukturiert hat. Ich lasse lediglich Dinge verschwinden, bringe ihren Terminkalender ein bisschen durcheinander, aber daran ist sie so gewöhnt, dass es sie nicht einmal mehr beunruhigt. Sie hat sich damit abgefunden. Und auf einmal kommt sie wieder etwas zu Kräften. Am Anfang hat sie Vincent natürlich täglich besucht, aber auf Dauer lässt sich das nicht durchziehen. Plötzlich hat sie schreckliche Schuldgefühle. Aus ihrer Korrespondenz mit dem Vater wird mir klar: Sie traut sich nicht einmal, darüber zu sprechen.
Da Vincent nun weg ist, bietet sie das Haus zum Verkauf an. Sie verscherbelt alles. Da erscheinen die merkwürdigsten Leute: Trödler, Antiquare, die ehrenamtlichen Helfer von Emmaus, ein Auto nach dem anderen. Sophie ist da, stehtaufrecht vor der Tür, um die Leute kommen zu sehen; wenn sie wegfahren, sieht man sie nie.
Zwischenzeitlich wird Karton um Karton verladen, Möbelstücke, ein unglaublicher Kram. Komisch â als ich all die Möbel und Sachen neulich nachts bei ihr gesehen habe, fand ich sie schön, aber nachdem ich nun mitbekommen habe, wie sie aufgeladen, weggebracht, umgezogen
Weitere Kostenlose Bücher