Der kalte Hauch der Angst
ganze Gebäude im Blick hatte. Ich stand seit zwanzig Minuten da, als ich mitbekam, wie sie oben auf der Treppe des Hauptgebäudes auftauchten. Sophie schob den Rollstuhl ihres Mannes über die Rampe. Ich konnte sie nicht sehr gut erkennen. Ich stand auf und näherte mich über einen Weg, der parallel verläuft. Was für ein Anblick! Der Mann, den sie im Rollstuhl schiebt, ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Seine Wirbel müssen also schlimm geschädigt sein, aber das ist noch nicht alles. Man sollte lieber aufzählen, was bei Vincent überhaupt noch funktioniert. Er dürfte nur noch um die fünfundvierzig Kilo wiegen. Zusammengesunken sitzt er da; sein Kopf, der ansonsten wackeln würde, wird von einer Stütze gehalten; soweit ich sehen kann, ist sein Blick glasig, seine Haut quittegelb. Es macht einen fertig, wenn man bedenkt, dass dieser Mann noch keine dreiÃig ist.
Sophie schiebt den Rollstuhl mit bewundernswerter Aufopferung. Sie ist ruhig, ihr Blick fest. Ich finde ihren Gang ein bisschen abgehackt, aber man muss verstehen, dass sie groÃe Sorgen hat. Das mag ich an ihr, dass sie selbst unter diesen Bedingungen nicht ins Theatralische abgleitet: Sie benimmt sich weder wie eine Nonne noch wie eine selbstlose Krankenschwester. Sie schiebt einfach nur den Rollstuhl. Dennoch muss sie sich fragen oder überlegen, was sie mit diesem Stück Fleisch nun anfangen soll. Ich übrigens auch.
18. Oktober
Das ist sehr betrüblich. Dieser Landstrich war an sich noch nie sehr fröhlich; aber das ist nun der Gipfel. Das riesige Haus, diese vereinsamte junge Frau, die beim kleinsten Sonnenstrahl den Rollstuhl des Behinderten vor die Tür schiebt, der sie ihre ganze Zeit, ihre ganze Kraft kostet â¦
Es ist erschütternd. Sie deckt ihn zu, setzt sich neben ihn auf einen Stuhl und redet mit ihm, während sie eine Zigarette nach der anderen raucht. Schwer zu sagen, ob er versteht, was sie sagt. Er wackelt ständig mit dem Kopf, ob sie nun spricht oder nicht. Ich will damit sagen: Er kann sich sprachlich nicht mehr artikulieren. Er stöÃt Schreie aus, stöhnt; die beiden versuchen alles, um miteinander zu kommunizieren. Sophie hat eine Engelsgeduld. Ich könnte das nicht.
Ich bin sehr diskret. Man darf nie zu viel machen. Ich komme nachts zwischen ein und vier Uhr, schlage einen Fensterladen kräftig an die Wand, und eine halbe Stunde später lasse ich die Birne der AuÃenleuchte zerspringen. Ich warte, bis in Sophies Zimmer das Licht angeht und das Fenster an der Treppe erleuchtet ist, und dann gehe ich in aller Ruhe nach Hause. Wichtig ist, das Klima aufrechtzuerhalten.
26. Oktober
Der Winter kam leicht verfrüht.
Ich habe erfahren, dass Laure ihre Klage gegen Sophie zurückgezogen hat. Sie hat sie sogar einmal besucht. DieScherben zwischen ihnen sind zwar nicht mehr zu kitten, aber die liebe Laure hat ein gutes Herz und ist offensichtlich nicht nachtragend. Sophie ist quasi nur noch Haut und Knochen.
Ich besuche sie ungefähr zweimal die Woche (ich dosiere die Medikamente, ich lege die Post der vergangenen Tage zurück, nachdem ich sie gelesen habe), ansonsten informiere ich mich über ihre Mails. Die Wendung, die die Dinge nehmen, gefällt mir nicht allzu sehr. Wir könnten uns in dieser depressiven Starre für Monate, ja Jahre einrichten â das muss sich ändern. Sophie versucht, ihren Alltag zu organisieren, sie sucht eine Haushaltshilfe, aber so jemanden findet man hier nicht so leicht, ganz abgesehen davon, dass mir das auch gar nicht gefällt. Ich fange die Post ab. Ich habe mich für eine Zermürbungstaktik entschieden, verlasse mich darauf, dass Sophie es in ihrem Alter, selbst mit viel Liebe, irgendwann sattkriegt und sich fragt, was sie eigentlich hier verloren hat, wie lange sie das noch aushalten kann. Ich stelle fest, dass sie eine Lösung sucht; sie sucht eine andere Bleibe, will wieder nach Paris ziehen. Mir ist alles recht. Nur dieses Stück Fleisch will ich nicht mehr lange im Weg herumliegen haben.
16. November
Sophie hat keine Minute Ruhe. In der ersten Zeit saà Vincent ruhig in seinem Rollstuhl, und sie konnte sich anderweitig beschäftigen, bis sie wieder nach ihm sah â¦Â Das wurde immer schwieriger. Seit einiger Zeit ist es sogar sehr schwierig. Wenn sie ihn vor die Tür schiebt, rollt er nach wenigen Minuten weiter und kippt fast die Treppe hinunter.Sie hat einen
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