Der kalte Hauch der Angst
werden, sah mit einem Mal alles so hässlich und düster aus. So ist das Leben.
9. Februar
Vorgestern um neun Uhr abends ist Sophie schnell in ein Taxi gestiegen.
Vincents Zimmer befindet sich im zweiten Stockwerk. Ihm war es gelungen, die Tür aufzustoÃen, die auf die alte Freitreppe führt, und sich mit dem Rollstuhl hinunterzustürzen. Die Pfleger wissen nicht, wie er es geschafft hat, aber dieser Kerl hatte noch eine ungeheuere Kraft.
Er hatte sich die Freistunden nach dem Essen ausgesucht, wenn sich Gruppen zu Gesellschaftsspielen bilden oder sich die anderen Insassen vor den Fernsehern versammeln. Er war auf der Stelle tot. Es ist übrigens bemerkenswert, dass er denselben Tod erlitten hat wie seine Mutter. Das ist eben Schicksal â¦
12. Februar
Sophie will Vincent einäschern lassen. Nur wenige Menschen sind zur Trauerfeier gekommen: ihr Vater, Vincents Vater, ehemalige Kollegen, ein paar Verwandte von der einen wie von der anderen Seite, mit denen sie nur wenig Kontakt hat. Daran kann man ermessen, wie einsam und leer es um sie herum geworden ist. Auch Valérie kam angereist.
17. Februar
Ich hatte gehofft, Vincents Tod wäre für Sophie eine kleine Erleichterung. Seit Wochen musste sie sich das Szenario ausgemalt haben: ihn Jahr für Jahr dort zu besuchen â¦Â Doch sie hat ganz anders reagiert. Sophie plagt das schlechte Gewissen. Hätte sie ihn nicht »abgeschoben«, hätte sie den Mumm gehabt, sich bis zum bitteren Ende um ihn zu kümmern, wäre er noch am Leben. Da kann ihr Valérie noch so oft schreiben, dass das doch kein Leben sei â Sophie steht schreckliche Qualen durch.
Ich denke dennoch, dass die Vernunft siegen wird. Früher oder später.
19. Februar
Sophie ist für ein paar Tage zu ihrem Vater gefahren. Ich hielt es nicht für notwendig, sie zu begleiten. Jedenfalls hat sie alle ihre Medikamente mitgenommen.
25. Februar
Das Viertel ist wirklich in Ordnung. Ich hätte es mir nicht ausgesucht, aber es ist okay. Sophie ist in eine Wohnung im dritten Stockwerk gezogen. Ich muss eine Möglichkeit finden, ihr neues Heim eines Tages zu besichtigen. Selbstverständlich kann ich kaum hoffen, einen so bequemen Beobachtungsposten zu finden wie früher, als Sophie noch eine blühende, junge Frau war. Aber ich werde mich darum bemühen.
Sie hat fast gar nichts hierher mitgebracht. Nach dem groÃen Ausverkauf im Oise dürfte nicht mehr sehr viel übrig geblieben sein. Der Wagen, den sie gemietet hat, war viel kleiner als beim ersten Umzug. Ich gebe zwar nicht viel auf Symbolik, aber für mich ist das trotzdem ein sehr entmutigendes Bild. Vor einigen Monaten hat Sophie die Stadt mit einem Ehemann und Tonnen von Möbeln, Büchern, Bildern und einem Kind im Bauch verlassen. Nun ist sie wieder zurückgekommen, allein, nur mit einem kleinen Lieferwagen. Das ist nicht mehr die junge Frau von früher, strahlend vor Liebe und Kraft. Weit davon entfernt! Manchmal sehe ich mir Bilder aus dieser Zeit an, Urlaubsbilder.
7. März
Sophie will sich eine Arbeit suchen. Nicht in ihrem Beruf, zur Presse hat sie keinerlei Beziehungen mehr, auÃerdem hat sie für so eine Stelle auch nicht mehr genug Elan. Mal ganz abgesehen davon, auf welche Art und Weise sie ihre letzte Stelle verloren hat â¦
Ich verfolge das Ganze von weitem. Mir ist alles recht. Sie geht in Büros, vereinbart Termine. Offensichtlich sucht sie einfach irgendeine Arbeit. Als wolle sie sich nur beschäftigen. In ihren Mails steht kaum etwas darüber. Es ist einfach nur eine praktische Sache.
13. März
Damit hätte ich niemals gerechnet: Kindermädchen! Na ja, in der Annonce hieà es »Nurse«. Sophie hat der Leiterin der Zeitarbeitsfirma gefallen. Und die Sache zog sich nicht lange hin: Am selben Abend noch war sie bei »Monsieur und Madame Gervais« eingestellt. Ich werde Erkundigungen über die beiden einziehen. Ich habe Sophie mit einem Jungen von fünf, sechs Jahren gesehen. Zum ersten Mal seit Monaten sehe ich sie wieder lächeln. Ihre Arbeitszeiten sind mir nicht ganz klar.
24. März
Die Putzfrau kommt am Mittag. Meistens macht Sophie ihr die Tür auf. Doch da sie auch an Tagen kommt, wenn Sophie nicht da ist, weià ich, dass sie einen eigenen Wohnungsschlüssel hat. Eine dicke, alterslose Frau, die ständig eine braune Plastiktasche mit sich herumträgt. Am Wochenende geht sie nicht zu
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