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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Lemaitre
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ist seine Stärke. Sophie, die Männermuskeln noch nie zum Träumen angeregt haben, freute sich, kräftige Arme, einen festen Bauch und eine ausgebildete Brustmuskulatur zu spüren. Sie war wirklich verzaubert wie ein Kind, als er sie eines Abends lächelnd auf ein Autodach gehievt hat, ohne in die Knie zu gehen. In ihr wurde ein Gefühl der Geborgenheit wach. Die Müdigkeit in ihrem Inneren hat sich nach und nach gelegt. Die Ereignisse in ihrem Leben haben sie jeder Hoffnung auf wahres Glück beraubt, und dieses Wohlgefühl, das sie nun empfindet, genügt ihr fast. Es gibt Ehepaare, die jahrzehntelang so zusammenleben. Sie hatte sich ein bisschen dafür verachtet, dass sie ihn genommen hat, weil er ein schlichtes Gemüt ist. Nun spürt sie mit Erleichterung, dass sie etwas Wertschätzung für ihn empfindet. Ohne sich dessen richtig bewusst zu sein, hat sie sich im Bett an ihn gekuschelt, ließ sich in den Arm nehmen, sich küssen, ließ ihn eindringen, und die ersten Wochen sind in neuen Dimensionen schwarz-weiß verlaufen. Schwarz, weil die Gesichter der Toten nicht verblassen, sie kommen jedoch in immer größeren Abständen,als würden sie sich entfernen. Weiß, weil sie besser schlief und weil die Dinge zumindest wieder in ihr erwachten, wenn auch nicht zu neuem Leben erblühten. Sie hatte kindliche Freude dabei, den Haushalt zu machen, wieder zu kochen – als würde sie mit einer Puppenküche spielen  – , Arbeit zu suchen, wenn auch nicht besonders eifrig, denn Frantz’ Gehalt reichte aus, um ihnen ein unmittelbares Auskommen zu sichern, wie er behauptete.
    Am Anfang ging Frantz um 8 Uhr 45 zur Kaserne und kam zwischen vier und fünf zurück. Abends gingen sie ins Kino oder aßen in der Brasserie Templier, wenige Minuten von ihrem Haus entfernt. Bei ihnen verlief es umgekehrt: Sie hatten erst geheiratet und sich dann kennengelernt. Dennoch sprachen sie ziemlich wenig miteinander. Sophie könnte auch nicht sagen, woran es lag, dass die Abende trotzdem ganz natürlich zu verlaufen schienen. Ja. Ein Thema kam oft auf. Wie bei allen frisch vermählten Paaren interessierte sich Frantz zu Anfang außerordentlich für Sophies Leben, ihr früheres Leben, ihre Eltern, Kindheit, Studium. Hatte sie viele Liebhaber gehabt? In welchem Alter hatte sie ihre Jungfräulichkeit verloren? All die Dinge, denen Männer angeblich keinerlei Bedeutung beimessen, nach denen sie aber ständig fragen. Also hat sich Sophie eine überzeugende Geschichte über ihre Eltern ausgedacht, über deren Scheidung, die weitgehend der Wahrheit entsprach; sie hat eine neue Mutter erfunden, die mit der wirklichen wenig gemeinsam hat, und natürlich hat Sophie kein Wort über ihre Hochzeit mit Vincent verloren. Was die Liebhaber und die Jungfräulichkeit angeht, hat sie sich aus dem Repertoire an Klischees bedient, und Frantz gab sich damit zufrieden. Für ihn setzt Mariannes Leben vor fünf, sechs Jahren aus und beginnt wieder mit ihrer Ehe, dazwischen klafft noch ein großes Loch. Sophie weiß, dass sie sichfrüher oder später eine passable Geschichte einfallen lassen muss, die diesen Abschnitt abdeckt. Sie hat Zeit. Frantz ist neugierig auf ihr Liebesleben, aber kein Schnüffler.
    Mit der wiedergefundenen Ruhe hat Sophie wieder angefangen zu lesen. Frantz bringt ihr regelmäßig Taschenbücher vom Zeitungskiosk mit. Über die Neuerscheinungen ist sie schon lange nicht mehr auf dem Laufenden, also liest sie alles, was ihr in die Finger kommt, das heißt, sie verlässt sich auf Frantz, der immer eine gute Wahl trifft, natürlich hat er auch schon mal irgendeinen Mist angebracht, aber er hat ihr auch Frauenporträts von Citati gekauft und – als würde er ahnen, dass ihr die russischen Autoren gefielen –  Leben und Schicksal von Grossman und Taiga-Blues von Ikonnikow. Sie sahen sich auch Filme im Fernsehen an oder Frantz lieh Videos aus. Auch dabei hat er ein glückliches Händchen: Sie konnte sich Der Kirschgarten mit Michel Piccoli anschauen; das Stück hatte sie vor ein paar Jahren in Paris im Theater verpasst. Im Laufe der Wochen spürte sie, wie sich eine fast wohlige Benommenheit in ihr ausbreitete, die etwas von dieser wundervollen ehelichen Trägheit hatte, die arbeitslose Ehefrauen manchmal überkommt.
    Doch diese Starre trog. Sophie hielt sie für ein Symptom

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