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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Lemaitre
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dann schrei!), Sophie, meine Fata Morgana, da stehst du nun oben an der Treppe, auf diesem breiten Treppenabsatz, auf den du meinen Rollstuhl geschoben hast. Du hast gerade dein Werk der Gerechtigkeit vollendet, das war’s … Wie entschlossen und voller Vorsatz dein Gesicht ist (wehr dich, Sophie, lass dich nicht von Vincents Tod übermannen!). Vor mir der Abgrund der Steintreppe, breit wie ein Friedhofsweg, tief wie ein Brunnen, und du, Sophie, mein Tod, du streichst mir sanft über die Wange, dein letztes Lebwohl, deine Hand auf meiner Wange, mit zusammengepressten Lippen, zusammengebissenem Kiefer packst du die Griffe meines Rollstuhls (widersteh, Sophie, wehr dich, schrei lauter), und mit einem jähen Stoß fällt mein Rollstuhl, falle auch ich, Sophie, meine Mörderin, und ich bin im Himmel, für dich, und dort warte ich auf dich, Sophie, denn ich will dich bei mir haben, bald wirst du bei mir sein (schrei! schrei!), schrei nur, meine Liebe, ich weiß, dass du auf dem Weg zu mir bist. Heute kannst du dich noch wehren, aber morgen wirst du erleichtert zu mir kommen. Und dann werden wir für immer und ewig zusammen sein …
    Keuchend und schweißgebadet setzt sich Sophie im Bett auf. Ihr Schreckensschrei hallt noch durch den Raum … Frantz sitzt neben ihr und sieht sie erschrocken an. Er reicht ihr die Hand.
    Â»Was ist denn los?«, fragt er.
    Der Schrei ist in ihrem Hals erstickt, sie bekommt keine Luft, ballt die Fäuste, ihre Fingernägel graben sich tief in die Handflächen. Frantz nimmt ihre Hände in die seinen und löst nacheinander ihre Finger, während er sanft mit ihr spricht, doch für sie sind in diesem Moment alle Stimmen gleich, und auch Frantz’ Stimme klingt wie Vincents Stimme. Die Stimme aus ihrem Traum. Die Stimme.
    Von diesem Tag an ist es vorbei mit den Jungmädchenfreuden. Wie in ihren schlimmsten Zeiten konzentriert sich Sophie, um nicht einzuschlafen. Auch tagsüber versucht sie nicht zu schlafen. Angst vor den Träumen. Doch manchmal kann sie nicht dagegen ankämpfen, dass der Schlaf kommt und sie übermannt. Bei Tag oder bei Nacht – die Toten besuchen sie. Manchmal ist es Véronique Fabre, mit blutigem, lächelndem Gesicht, tödlich verletzt, aber am Leben. Sie spricht mit Sophie und erzählt ihr von ihrem Tod. Doch das ist nicht ihre Stimme, es ist die Stimme, die zu ihr spricht, diese präzise Stimme, diese Stimme, die alles weiß, die alles bis ins Detail weiß, die ihr ganzes Leben kennt. Ich warte auf Sie, Sophie, sagt Véronique Fabre, seit Sie mich getötet haben, weiß ich, dass Sie bald zu mir kommen werden. Mein Gott, wie sehr Sie mir weh getan haben! Das können Sie sich gar nicht vorstellen. Ich werde Ihnen alles erzählen, wenn Sie bei mir sind. Ich weiß, dass Sie kommen werden … Bald werden Sie Lust haben, mir Gesellschaft zu leisten, uns allen Gesellschaft zu leisten. Vincent, Léo, mir … Wir werden alle hier sein, um Sie zu empfangen …
    Tagsüber tut Sophie nichts mehr, sie hängt nur herum. Frantz ist zu Tode erschrocken, er will einen Arzt rufen, sie wehrt sich heftig dagegen. Sie reißt sich zusammen und versucht, seine Sorge zu zerstreuen. Aber sie sieht ihm an, dass er es nicht versteht, ihm unbegreiflich ist, dass sie in einer solchen Situation keinen Arzt will.
    Er kommt immer früher nach Hause. Aber er ist ja auch in großer Sorge. Gleich sagt er: »Ich habe mir ein paar Tage freigenommen. Ich hatte noch Resturlaub …«
    Nun ist er den ganzen Tag mit ihr zusammen. Während die Müdigkeit sie niederstreckt, sieht er fern. Mitten am Tag. Sie kann Frantz’ ausrasierten Nacken vor dem Bildschirmsehen, und der Schlaf überkommt sie. Die immergleichen Worte, die immergleichen Toten. In ihren Träumen spricht der kleine Léo mit der Männerstimme, die er nie haben wird. Léo spricht zu ihr mit der Stimme. Er erzählt ihr in allen Einzelheiten, wie der Schnürsenkel ihm am Hals weh getan hat, wie er sich abgemüht hat zu atmen, wie er sich gewehrt hat, wie er versucht hat zu schreien … Alle Toten kommen wieder, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Frantz kocht ihr Kräutertee, Bouillon, will immer noch den Arzt rufen. Aber Sophie will niemanden sehen, es ist ihr gelungen, zu verschwinden, sie will nicht das Risiko einer Untersuchung eingehen, sie will nicht

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