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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Lemaitre
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dass er lange gelitten hat. Ich habe den Schnürsenkel um seinen Hals gelegt und ihm mit der Schulter das Kissen aufs Gesicht gedrückt, dann ging alles ganz schnell. Aber es war anstrengend. Er hat heftig gestrampelt. Ich habe gespürt, wie ich Brechreiz bekam, mir Tränen in die Augen stiegen. Augenblicklich wusste ich, dass diese Sekunden mich für immer verändern würden. Das war das Schlimmste von allem, was ich bislang machen musste. Ich habe es geschafft, aber ich werde mich nie wieder davon erholen. Ein Teil von mir ist mit diesem Kind gestorben. Das Kind in mir, von dem ich nicht gewusst hatte, dass es noch am Leben gewesen war.
    Ich wurde nervös, als ich Sophie am Morgen nicht aus dem Haus kommen sah. Das war gar nicht ihre Art. Ich hatte keine Möglichkeit herauszufinden, was sich in der Wohnung abspielte. Ich telefonierte zweimal. Und ein paar Minuten später, ein paar unendlich lange Minuten, sah ich sie endlich wie von Sinnen aus dem Haus stürzen. Sie nahm die Metro. Sie eilte nach Hause und packte ein paar Kleider zusammen, dann ging sie kurz vor der Mittagspause zur Bank.
    Sophie war auf der Flucht.
    Am nächsten Morgen die Schlagzeile des Matin: »Sechsjähriger im Schlaf erdrosselt. Kindermädchen polizeilich gesucht.«
    Januar 2004
    Im Februar letzten Jahres titelte Le Matin: »Wo steckt Sophie Duguet?«
    Damals hatte man gerade entdeckt, dass Sophie nach dem kleinen Léo Gervais auch eine gewisse Véronique Fabre um die Ecke gebracht hatte und mit deren Papieren geflüchtet war. Dass im darauf folgenden Juni der Geschäftsführer eines Fast-Food-Lokals, wo Sophie schwarz arbeitete, dran glauben müsste, wusste man noch nicht.
    Diese Frau hat Reserven, die sich niemand vorstellen konnte. Nicht einmal ich, der ich sie ja nun am besten kennt. Ȇberlebensreflex« ist kein hohles Wort. Damit Sophie davonkommt, musste ich aus der Ferne ein wenig nachhelfen, aber ich gehe fast davon aus, dass sie es auch allein geschafft hätte. Tatsache ist jedenfalls: Sophie ist noch auf freiem Fuß. Sie ist mehrmals in eine andere Stadt gezogen, hat Frisur und Aussehen verändert, den Beruf gewechselt, andere Gewohnheiten angenommen, neue Beziehungen aufgebaut.
    Trotz der Schwierigkeiten, die ihre Flucht, ihre Existenz ohne Papiere und ihre ständige Mobilität für mich darstellten, konnte ich unablässig Druck auf sie ausüben, weil meine Methoden sehr wirkungsvoll sind. Im Verlauf dieser Monate waren wir, sie und ich, wie zwei blinde Schauspieler in derselben Tragödie: Wir sind dazu bestimmt, uns zu finden, und der Moment naht.
    Offensichtlich war der Erfolg der napoleonischen Kriege einem Strategiewechsel geschuldet. Und auch Sophie hatte damit Erfolg. Hundertmal hat sie einen anderen Weg eingeschlagen. Auch jetzt verfolgt sie gerade einen neuen Plan.Und sie bereitet sich, noch einmal, auf einen Namenswechsel vor … Das ist ziemlich neu. Mit Hilfe einer Prostituierten, deren Bekanntschaft Sophie gemacht hat, ist es ihr gelungen, sich »echte« falsche Papiere zu besorgen. Sehr falsche Papiere, aber mit einem richtigen Namen, der einer Überprüfung unter Umständen sogar standhalten würde, einem makellosen Namen jedenfalls, der nicht aktenkundig ist. Danach ist sie gleich in eine andere Stadt gezogen. Allerdings konnte ich zuerst nicht so ganz begreifen, was es ihr nutzen sollte, zu einem horrenden Preis eine Geburtsurkunde zu kaufen, die nur drei Monate gültig war. Als sie eine Ehevermittlung betrat, habe ich es begriffen.
    Ein raffinierter Plan. Sophie mag noch so viele Alpträume haben, sie mag von morgens bis abends zittern wie Espenlaub und alles, was sie tut, obsessiv verzeichnen, ich muss ihr dennoch eine außerordentliche Anpassungsgabe zusprechen. An die wiederum ich mich sehr schnell anpassen musste.
    Ich würde lügen, würde ich sagen, dass es mir schwerfiel. Ich kenne sie ja so gut … wusste genau, wie sie reagieren, was sie interessieren würde. Denn ich wusste genau, was sie suchte und dass ich wohl der Einzige war, der ihren Bedürfnissen vollkommen entsprach. Um ganz glaubwürdig zu wirken, durfte ich nicht der ideale Kandidat sein, ich musste die Sache aufs Feinste dosieren. Zunächst hat Sophie mich abgewiesen. Dann hat die Zeit für mich gearbeitet. Sophie überlegte, sie kam zurück. Ich gab mich linkisch, um glaubwürdig zu sein, und pfiffig genug, um sie

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