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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Lemaitre
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verrückt sein, will nicht in eine Anstalt kommen, schwört, dass sie alles überwinden kann. Bei den Anfällen bekommt sie eiskalte Hände, ihr Herzschlag stockt, dann rast er wieder. Ihr ist kalt, aber ihre Kleider sind schweißnass. Sie schläft Tag und Nacht. »Das sind Angstzustände. Sie vergehen so schnell, wie sie kommen«, wagt sie zu sagen, um Frantz zu beruhigen. Er lächelt, ist aber skeptisch.
    Einmal geht sie aus dem Haus. Nur wenige Stunden.
    Â»Vier Stunden!«, sagt Frantz, als verkünde er einen Weltrekord. »Ich habe Todesängste ausgestanden! Wo warst du?«
    Er nimmt ihre Hände. Er ist in echter Sorge.
    Â»Ich bin doch wieder da«, sagt Sophie, als sei das die Antwort, die er von ihr erwartet hat.
    Frantz will verstehen, Sophies Verschwinden hat ihn nervös gemacht. Er ist ein schlichtes, aber rationales Gemüt. Was er nicht versteht, macht ihn verrückt.
    Â»Was soll ich denn machen, wenn du einfach so weggehst? Ich meine, wie soll ich dich wiederfinden?«
    Sie sagt, sie erinnere sich nicht, wo sie war. Er lässt nicht locker: »Vier Stunden – es ist doch nicht möglich, dass du dich nicht erinnerst!«
    Sophie verdreht die Augen, fremde, durchscheinende Augen.
    Â»In einem Café«, sagt sie, als würde sie mit sich selbst sprechen.
    Â»Ein Café … Du warst in einem Café … In welchem Café?«, will Frantz wissen.
    Sie sieht ihn an, sie ist verloren.
    Sophie hat angefangen zu weinen. Frantz hat sie an sich gedrückt. Sie hat sich an ihn geschmiegt. Das war im April. Was wollte sie? Mit allem Schluss machen vielleicht. Doch sie ist zurückgekommen. Erinnert sie sich, was sie während dieser vier Stunden getan hat? Was kann man in vier Stunden machen …?
    Einen Monat später hat sich Sophie, erschöpfter denn je, wirklich gerettet.
    Frantz ging kurz aus dem Haus, er sagte: »Ich bin gleich wieder zurück, keine Sorge!« Sophie hat gewartet, bis seine Schritte im Treppenhaus verklungen waren, dann zog sie sich eine Jacke über, raffte mechanisch ein paar Sachen zusammen, nahm ihr Portemonnaie und flüchtete. Sie verließ das Haus durch die Müllkammer, die auf eine andere Straße führt. Sie rennt. Ihr Kopf pocht wie ihr Herz. Sie hämmern, dass es vom Unterleib bis in die Schläfen dröhnt. Sie rennt. Sie schwitzt, sie zieht die Jacke aus und wirft sie auf den Gehweg, sie rennt weiter und dreht sich um. Fürchtet sie, die Toten könnten hinter ihr her sein? 6.7.5.3. Daran muss sie sich erinnern. 6.7.5.3. Sie gerät außer Atem, ihre Brust brennt, sie rennt, da steht sie vor dem Bus, springt mehr auf, als dass sie normal einsteigt. Sie hat kein Geld dabei. Sie wühlt in ihren Taschen; vergeblich. Der Busfahrer sieht sie als das an, was sie ist: eine Irre. Sie zieht eine 2-Euro-Münzeheraus, die irgendwo in ihrer Jeans steckte. Der Fahrer stellt ihr eine Frage, die sie nicht versteht, auf die sie aber antwortet: »Alles bestens«, ein Satz, der immer wirkt, wenn man andere beruhigen will. Alles bestens. 6.7.5.3. Das darf sie nicht vergessen. Neben ihr stehen nur drei, vier Passagiere, die sie verstohlen anschielen. Sie streicht ihre Kleider glatt. Sie hat sich nach hinten gesetzt und beobachtet durch das Fenster den Verkehr. Sie würde gern rauchen, aber das ist verboten, außerdem hat sie sowieso alles zu Hause vergessen. Der Bus fährt zum Bahnhof. Er steht lange an einer Ampel, dann fährt er holpernd wieder an. Sophie kommt wieder etwas zu Atem, aber als sie sich dem Bahnhof nähert, packt sie wieder die Angst. Sie hat Angst vor der Welt, den Leuten, den Zügen. Angst vor allem. Sie denkt, so kann sie nicht fliehen, so leicht nicht. Immer wieder dreht sie sich um. Die Gesichter hinter ihr – tragen sie die Maske des Todes, der nun kommt? Sie zittert immer heftiger, und nach all diesen anstrengenden Tagen und Nächten hat es sie völlig entkräftet, nach dem Bus zu rennen und durch den Bahnhof zu gehen. »Melun«, sagt sie. 6.7.5.3. Nein, sie bekommt keine Ermäßigung. Ja, sie will über Paris fahren. Fordernd reicht sie dem Angestellten ihre Bankkarte, will, dass er sie sofort nimmt, sie würde ihre Nachricht gern loswerden, bevor sie sie vergisst. 6.7.5.3. Der Angestellte soll ihr die Fahrharte geben, sie einsteigen lassen, sie würde schon jetzt am liebsten die Bahnhöfe vorbeifliegen sehen

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