Der kalte Hauch der Angst
den Gervais. Ich habe sie ein paar Tage lang beobachtet, habe mir ihren Tagesablauf, ihre Gewohnheiten gemerkt, weià genau, was sie tut. Bevor sie ihre Arbeit antritt, macht sie Halt im Triangle, dem Café an der Ecke, und raucht eine letzte Zigarette. Offensichtlich darf sie bei den Gervais nicht rauchen. Ihr Ding ist die Dreierwette. Ich habe mich an den Nebentisch gesetzt, und während sie anstand, um ihre Wette zu platzieren, habe ich in ihre Einkaufstasche gegriffen. Ihren Schlüsselbund ertastete ich gleich. Am Samstagmorgen bin ich nach Villeparisis gefahren (Wahnsinn, welchen Weg diese Frau auf sich nimmt!), und während sie ihre Besorgungen gemacht hat, habe ich ihr den Schlüsselbund wieder in die Tasche gesteckt. Sie ist noch mal mit dem Schrecken davongekommen.
Nun habe ich Zutritt zu den Gervais.
2. April
Es ändert sich wirklich nichts. Keine zwei Wochen hat es gedauert, da hatte Sophie schon wieder ihre Papiere verloren, ihr Wecker ging nach (bereits in der ersten Woche ist sie zuspät gekommen). Ich verstärke den Druck wieder und warte auf eine gute Gelegenheit. Bislang habe ich mich geduldig gezeigt, aber nun würde ich gern zu Plan B übergehen.
3. Mai
Obwohl Sophie die neue Arbeit gefällt, hat sie seit zwei Monaten dieselben psychischen Probleme wie vor einem Jahr. Genau dieselben. Aber etwas Neues ist hinzugekommen: ihre Wut. Manchmal kann ich ihr nicht ganz folgen. Ihr Unterbewusstsein scheint aufzubegehren, sie in Wut zu versetzen. Das war früher nicht so. Sophie hatte sich mit ihrem Wahnsinn abgefunden. Doch nun ist wohl etwas übergekocht; ich weià auch nicht. Ich sehe, wie sie sich aufregt, sich nur mit Mühe beherrscht. Sie ist unfreundlich zu den Leuten, man könnte sagen, dass sie ihnen ständig trotzt, niemanden mehr leiden mag. Doch dass sie so ist, daran sind ja nicht die anderen schuld! Ich finde sie aggressiv. Im Viertel hatte sie schnell einen schlechten Ruf weg. Keine Geduld. Für ein Kindermädchen ist das das Letzte. Und ihre persönlichen Probleme (im Moment sind das ja einige, wie ich sagen muss â¦) wirken sich auf ihr Umfeld aus. Man könnte meinen, sie hätte manchmal Lust, jemanden umzubringen. Wäre ich an der Stelle dieser Eltern, würde ich einer Frau wie Sophie mein sechsjähriges Kind nicht anvertrauen.
28. Mai
Es hat geklappt. Ich habe Sophie und das Kind im Dantremont-Park gesehen, alles wirkte sehr beschaulich. Sophie schien auf einer Bank vor sich hin zu dösen. Ich weià nicht, was vorgefallen ist â kurz darauf ging sie jedenfalls mit schnellen Schritten wütend über den Gehweg. Weit hinter ihr schmollte das Kind. Als Sophie sich umgedreht und sich auf den Jungen gestürzt hat, ist mir klar geworden, dass etwas Schlimmes passieren würde.
Eine Ohrfeige! Eine hasserfüllte Ohrfeige, ein Schlag, der erziehen, bestrafen will. Der Bengel war wie vor den Kopf gestoÃen. Sie selbst auch. Als würde sie aus einem Alptraum erwachen. Sie standen eine Weile da und sahen einander an, ohne zu sprechen. Die Ampel sprang auf Grün, ich fuhr gelassen los. Sophie blickte sich um, als fürchte sie, jemand könnte sie gesehen haben, und man könnte von ihr eine Rechtfertigung verlangen. Ich denke, sie hasst dieses Kind.
Letzte Nacht hat sie bei den Gervais geschlafen. Das kommt selten vor. Normalerweise geht sie lieber nach Hause, egal, um welche Uhrzeit. Ich kenne die Wohnung der Gervais. Wenn Sophie dort schläft, gibt es zwei Möglichkeiten, denn es gibt zwei Gästezimmer. Ich schaute nach, welche Fenster erleuchtet waren. Sophie hat dem Kind eine Geschichte erzählt, ich habe gesehen, wie sie danach am Fenster eine Zigarette geraucht und das Licht im Badezimmer angemacht hat, dann war es dunkel in der Wohnung. Das Zimmer â um ins Kinderzimmer zu kommen, muss man durch das Gästezimmer gehen, wo Sophie schläft. Ich bin sicher, dass die Eltern an jenen Abenden darauf verzichten, einen Blick auf ihr Kind zu werfen, um Sophie nicht zu wecken.
Die Eltern kamen gegen 1 Uhr 20 nach Hause. Sie machten ihre Toilette, das Licht im Schlafzimmer erlosch um zwei Uhr. Um vier Uhr bin ich hinaufgegangen. Ich suchte Sophies Wanderschuhe im Flur, zog die Schnürsenkel heraus und ging wieder zurück. Ich lauschte lange Sophies Schlaf, dann durchquerte ich leise und ganz langsam ihr Zimmer. Der Kleine schlief tief, er atmete leise pfeifend. Ich glaube nicht,
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