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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Lemaitre
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ihrer wiedergefundenen inneren Ruhe, dabei war sie nur ein Vorbote einer neuen Phase der Depression.
    Eines Nachts fing sie an, im Bett herumzufuchteln und zu strampeln. Und dann sah sie plötzlich Vincents Gesicht vor sich.
    In ihrem Traum ist Vincent ein riesiges, verzerrtes Gesicht, als würde man ihn aus einem schiefen Winkel oder in einem konkaven Spiegel betrachten. Es ist nicht wirklich das Gesicht ihres Vincents, des Vincents, den sie geliebt hat. Es ist der Vincent nach dem Unfall, mit tränenden Augen, derKopf ständig zur Seite geneigt, der Mund halb offen über den fehlenden Worten. Im Traum drückt sich Vincent nicht mehr mit Knurrlauten aus. Er spricht. Während Sophie sich im Bett wälzt, um Vincent zu entkommen, sieht er sie an und spricht ruhig und ernst mit ihr. Es ist nicht wirklich seine Stimme, genauso wenig wie es sein Gesicht ist, aber er ist es, weil er ihr Dinge sagt, die nur er wissen kann. Sein Gesicht bewegt sich fast nicht, seine Pupillen jedoch weiten sich, bis es große dunkle hypnotische Untertassen sind. Ich bin hier, Sophie, meine Liebe, ich spreche zu dir nach dem Tod, in den du mich geschickt hast. Ich will dir sagen, wie sehr ich dich geliebt habe, und will dir zeigen, wie sehr ich dich noch immer liebe. Sophie wehrt sich, aber Vincents Blick nagelt sie ans Bett, mit ihren fuchtelnden Armen kommt sie dagegen nicht an. Warum hast du mich in den Tod geschickt, meine Liebe? Zweimal. Erinnerst du dich? Im Traum geschieht das in der Nacht. Das erste Mal war es ganz einfach Schicksal. Vincent fährt umsichtig auf der regennassen Straße. Durch die Windschutzscheibe sieht sie, wie er langsam vom Schlaf übermannt wird, wie sein Kopf nach vorn kippt, wie er ihn langsam wieder hebt, sie sieht, wie er blinzelt, die Augen zusammenkneift und versucht, sich gegen den Schlaf zu wehren, während es immer stärker regnet, die Straße mittlerweile überschwemmt ist und der wirbelnde Wind schwere Platanenblätter auf die Scheibenwischer drückt. Ich war nur müde, Sophie, mein Schläfchen, ich war in diesem Moment noch nicht tot. Warum wolltest du, dass ich sterbe? Sophie ringt nach einer Antwort, doch ihre Zunge ist schwer, breiig, sie füllt ihren ganzen Mund aus … Will ihm sagen: Mein Geliebter, wie sehr du mir fehlst, wie sehr mir das Leben seit deinem Tod fehlt, wie tot ich bin, seit du nicht mehr da bist. Aber es kommt nichts heraus. Erinnerst du dich, wie ichwar? Ich weiß, dass du dich erinnerst. Seit ich tot bin, spreche ich nicht, bewege mich nicht, nun bleiben die Worte in mir stecken, ich sabbere nur, erinnerst du dich, wie ich sabbere?, mein Kopf ist schwer, meine Seele, meine Seele ist schwer, und wie schwer mir das Herz ist, wenn ich sehe, wie du mich in jener Nacht angestarrt hast! Auch ich sehe dich genau vor mir. Am Tag meines zweiten Todes. Du trägst dieses blaue Kleid, das mir nie gefallen hat. Du stehst neben dem Weihnachtsbaum, Sophie, mein Geschenk, mit verschränkten Armen und so schweigsam (beweg dich, Sophie, wach auf, sonst bleibst du in deiner Erinnerung gefangen, du wirst leiden … Akzeptier das nicht!), du siehst mich an, ich sabbere nur, ich kann nichts sagen, wie immer, aber ich sehe dich mit Liebe an, meine Sophie, und du starrst mich mit einer schrecklichen Härte an, mit Groll und Widerwillen, ich spüre, dass meine Liebe nun nichts mehr ausrichten kann: Du hast angefangen, mich zu hassen, ich bin dir für alle Zeiten eine Last im Leben (akzeptier das nicht, Sophie, dreh dich um, lass nicht zu, dass der Alptraum dich übermannt, die Lüge wird dich umbringen, du bist in Wirklichkeit gar nicht da, wach auf, koste es, was es wolle, streng dich an, wach auf!), und du drehst dich ganz ruhig um, nimmst einen Tannenzweig, siehst mich an, mit gleichgültigem Blick zündest du ein Streichholz an, zündest diese kleinen Kerzen an (lass dir das nicht sagen, Sophie, Vincent täuscht sich, das hättest du nie getan! Er leidet, seine Qualen sind groß, weil er tot ist, aber du musst am Leben bleiben, Sophie. Wach auf!), in einer einzigen, gierig auflodernden Flamme fängt der Baum Feuer, und auf der anderen Seite des Raums sehe ich dich hinter der Wand aus Flammen verschwinden, während die Vorhänge brennen; an meinen Rollstuhl gefesselt, vom Grauen gepackt, spanne ich vergeblich alle Muskeln an, du bist schon weg, Sophie, meine Flamme (wenn du dich nicht bewegen kannst,Sophie,

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