Der kalte Hauch der Angst
Pullovers gesteckt, weil ihr so kalt ist. Die Müdigkeit. Sie hat gesagt: »Ich friere.« Vergangene Nacht ist sie aufgewacht und musste sich übergeben. Sie hat noch immer Bauchschmerzen davon. Sie fühlt sich schmutzig. Eine Dusche hat nicht genügt, sie will ein Bad nehmen. Frantz lässt Wasser einlaufen, wie so oft sehr heiÃ, und gibt sein Lieblingsbadesalz hinzu, das sie insgeheim verabscheut, es riecht künstlich und ist ein bisschen widerlich parfümiert, aber sie will ihn nicht verärgern. Ist ja auch egal. Sie will nur, dass das Wasser ganz heià ist, damit sie ihre erstarrten Glieder aufwärmen kann. Er hilft ihr beim Ausziehen. Sophie sieht sich im Spiegel, ihre spitzen Schultern, ihre hervorstehenden Hüftknochen, ihren mageren Körper. Sie könnte heulen, wenn sie nicht so zittern müsste â¦Â Wie viel wiegt sie? Und was sie sieht, spricht sie plötzlich laut aus: »Ich glaube, ich sterbe bald.« Sie ist bestürzt von dieser Feststellung. Sie hat das gesagt, wie sie einige Wochen zuvor gesagt hatte: »Mir geht es gut.« Auch das war wahr. Sophie ist dabei, langsam zu verlöschen. Tag um Nacht, Alptraum für Alptraum wird sie weniger und verkümmert. Sie schwindet. Bald wäre sie durchscheinend. Sie betrachtet noch einmal ihr Spiegelbild, ihre vorstehenden Wangenknochen, ihre tief liegenden Augen mit den schwarzen Ringen darunter. Frantz drückt sie an sich. Er sagt nette, dumme Sachen. Er tut so, als müsse er lachen über diese Ungeheuerlichkeit, die sie gerade ausgesprochen hat. Doch er übertreibt: Er tätschelt ihr kräftig den Rücken wie beim Abschied von jemandem, den man lange nicht mehr sehen wird. Er sagt, das Wasser sei heiÃ. Sophiesteckt schaudernd einen Finger hinein. Sie fängt am ganzen Leib an zu beben. Frantz dreht den Kaltwasserhahn auf, sie beugt sich über die Wanne, sagt, ist schon gut, er geht hinaus. Er lächelt vertrauensvoll, als er geht, aber er lässt immer die Türen offen. Als sie den Fernseher hört, legt sie sich in die Wanne, streckt die Hand aus, nimmt die Schere von der Konsole und betrachtet aufmerksam ihre kaum sichtbaren Adern an den Handgelenken. Sie legt die Schneide der Schere an, richtet sie aus, verändert den Winkel, setzt sie schräger an, wirft einen Blick auf Frantzâ Nacken und scheint aus diesem Anblick eine endgültige Ãberzeugung zu schöpfen.
Sie holt tief Luft und schneidet. Dann entspannt sie sich und lässt sich allmählich tiefer ins Wasser gleiten.
Was sie als Erstes sieht, ist Frantz, der an ihrem Bett sitzt. Dann ihren ganzen Körper, ihr linker Arm ist dick verbunden. Und schlieÃlich das Zimmer. Durch das Fenster fällt diffuses Licht, das den Beginn oder das Ende eines Tages ankündigen könnte. Frantz schenkt ihr ein nachsichtiges Lächeln. Er hält sie sachte an den Fingerkuppen, die als Einziges noch zu sehen sind. Er streichelt sie, sagt aber nichts. Sophie hat einen schrecklich schweren Kopf. Neben ihnen steht der Rollwagen mit dem Essenstablett.
»Du musst essen â¦Â«, sagt er.
Das sind seine ersten Worte. Keine Frage, kein Vorwurf, nicht einmal Angst. Nein, Sophie will nichts essen. Er neigt den Kopf, als sei ihm das peinlich. Sophie schlieÃt die Augen. Sie kann sich sehr gut an alles erinnern. Der Sonntag, die Zigaretten, das Fenster, die Kälte in den Knochen und ihr Gesicht wie das einer Toten im Badezimmerspiegel. Ihre Entscheidung. Gehen. Unbedingt gehen. Beim Geräusch der Tür, die aufgeht, schlägt sie die Augen wieder auf. EineKrankenschwester kommt herein. Sie lächelt freundlich, geht um das Bett herum und überprüft die Infusion, die Sophie noch gar nicht bemerkt hat. Sie legt Sophie geübt den Daumen unters Kinn und lächelt gleich wieder.
»Ruhen Sie sich aus«, sagt sie im Hinausgehen. »Der Arzt ist gleich da.«
Frantz bleibt, blickt aus dem Fenster, um sich seine Verlegenheit nicht anmerken zu lassen. Sophie sagt: »Tut mir leid â¦Â«, und ihm fällt darauf nichts zu sagen ein. Er sieht weiter aus dem Fenster und drückt ihre Fingerkuppen. Er hat eine unglaubliche Kraft zu passivem Widerstand. Sie spürt, dass er für immer bei ihr ist.
Der Arzt ist ein kleiner, korpulenter Mann von erstaunlicher Vitalität. Selbstsichere fünfzig, anheimelnde Glatze. Ein kurzer Blick und ein leichtes Lächeln genügen, und Frantz fühlt
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