Der kalte Hauch der Angst
und wieder aussteigen â¦Â Ja, sie hätte einen langen Zwischenaufenthalt. Dann tippt der Angestellte etwas in den Computer und setzt den ratternden Drucker in Gang, das Ticket liegt vor ihr, der Angestellte sagt: »Geben Sie bitte Ihre Geheimzahl ein.« 6.7.5.3. Ein Sieg. Ãber wen? Sophie dreht sich um und geht weg. Ihre Bankkarte steckt noch im Lesegerät. Mit einem süffisantenLächeln weist eine Frau sie darauf hin. All das ist wie ein Déjà -vu, immer wieder durchlebt Sophie dieselben Szenen, dieselben Fluchten, sieht dieselben Toten seit â¦Â Seit wann? Das muss aufhören. Sie tastet ihre Taschen nach Zigaretten ab, spürt die Bankkarte, die sie gerade eingesteckt hat, und als sie den Kopf hebt, steht Frantz vor ihr, auÃer sich, er fragt: »Wohin willst du?« In der Hand hält er die Jacke, die sie weggeworfen hat. Er schüttelt den Kopf. »Wir müssen nach Hause. Und dieses Mal wird der Arzt geholt! Klar?« Sie überlegt einen Moment, ob sie Ja sagen soll. Einen kurzen Moment. Doch dann beherrscht sie sich. »Nein, kein Arzt â¦Â Ich will nach Hause.« Er lächelt sie an und nimmt sie am Arm. Sophie ist schwindelig, sie krümmt sich leicht. Frantz hält ihren Arm fest. »Wir sind gleich zu Hause«, sagt er. »Ich habe gleich hier geparkt.« Sophie sieht, wie der Bahnhof verschwindet, sie schlieÃt die Augen, als müsse sie eine Entscheidung fällen. Dann dreht sie sich zu Frantz und fällt ihm um den Hals. Sie drückt sich an ihn, sagt: »Oh, Frantz â¦Â «, sie weint, und während er sie zum Ausgang, zum Auto, zum Haus mehr trägt als stützt, wirft sie ihre Fahrkarte zusammengeknüllt auf den Boden und vergräbt schluchzend ihr Gesicht in Frantzâ Schulter.
Frantz ist immer bei ihr. Wenn sie zu sich kommt, entschuldigt sie sich für das Leben, zu dem sie ihn zwingt. Schüchtern bittet er sie um eine Erklärung. Sie verspricht, es ihm zu erzählen. Sie sagt, sie müsse sich zuerst ausruhen. Immer die gleiche Leier, dieses »sich ausruhen«, das Wort, das für ein paar Stunden alle Türen schlieÃt, lässt ihr ein wenig Zeit, durchzuatmen, die nötige Zeit, um wieder zu Kräften zu kommen, um sich auf die anstehenden Kämpfe vorzubereiten, die Träume, die Toten, die unersättlichen Besucher.Frantz kauft ein. »Ich will nicht durch die ganze Stadt hinter dir herrennen müssen«, sagt er lächelnd, wenn er beim Weggehen die Tür abschlieÃt. Sophie lächelt dankbar zurück. Frantz macht den Haushalt, er saugt Staub, kocht, holt Brathähnchen, indisches, chinesisches Essen, leiht Videos aus und bringt sie mit verschwörerischem Blick nach Hause. Sophie findet die Wohnung sauber, das Essen sehr gut, auch die Filme seien sehr gut, behauptet sie, doch sie schläft schon wenige Minuten nach dem Vorspann vor dem Bildschirm ein. Ihr schwerer Kopf taucht dann schnell in den Tod ein, und wenn sie aufwacht, auf dem Boden, stimmlos, sprachlos, atemlos, fast leblos, hält Frantz sie im Arm.
Was geschehen musste, geschieht schlieÃlich auch. Es ist ein Sonntag. Sophie hat seit Tagen nur geschlafen. Vor lauter Schreien hat sie keine Stimme mehr. Frantz verwöhnt sie, er ist immer da, füttert sie, weil sie nichts essen will. Erstaunlich, wie selbstverständlich dieser Mann den Wahnsinn der Frau akzeptiert, die er erst vor kurzem geheiratet hat. Fast wie ein Heiliger. Er ist hingebungsvoll, aufopfernd. »Ich erwarte, dass du endlich einen Arzt akzeptierst. Dann wird alles besser«, sagt er. Sie sagt: »Bald geht alles besser.« Er bleibt beharrlich. Er sucht den Grund für diese Weigerung. Er hat Angst, hinter die Kulissen ihres Lebens zu treten, einen Bereich, zu dem er bislang keinen Zutritt hatte. Was geht in ihrem Kopf vor? Sie will ihn beruhigen, sie spürt, dass sie etwas Normales tun muss, um ihm die Sorge zu nehmen. Also legt sie sich manchmal auf ihn, windet sich, bis sie seine Lust spürt, öffnet sich ihm, führt ihn, sie will ihm eine Freude machen, stöÃt ein paar Schreie aus, schlieÃt die Augen, wartet, dass er kommt.
Also ein Sonntag. Ruhige Langeweile. Am Morgen hörte man im Haus laut die Stimmen der Bewohner, die vom Markt zurückkamen oder auf dem Parkplatz ihren Wagen wuschen. Den ganzen Vormittag über hat Sophie rauchend aus dem Fenster geschaut, die Hände in die Ãrmel ihres
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