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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Lemaitre
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vor Müdigkeit die Augen. Sie lächelte zur Entschuldigung. Sie wollte nicht allein schlafen. Vor dem Einschlafen nimmt sie Valérie in den Arm. Sie will etwas sagen, aber die Worte kommen nicht. Auch Valérie sagt nichts. Sie erwidert einfach die Umarmung.
    Sophie ist sofort eingeschlafen. Valérie hält sie im Arm. Immer wenn ihr Blick auf die Verbände fällt, wird ihr übel, ein Schauder durchläuft ihren ganzen Körper. Es ist seltsam. Seit über zehn Jahren hätte Valérie alles gegeben, um Sophie bei sich, in ihrem Bett, zu haben. »Und dann muss es jetzt sein. Und auch noch so …«, sagt sie sich. Sie würde am liebsten weinen. Sie weiß, wie sehr dieser Wunsch sie dazu bewegt hat, Sophie in die Arme zu schließen, als sie hier aufgetaucht ist.
    Es war fast zwei Uhr nachts, als Valérie von der Klingel geweckt wurde. Sophie hatte zwei Stunden lang überprüft, ob das Haus observiert wird … Als Valérie die Tür aufgemacht hat, erkannte sie in der jungen Frau, die dort mit baumelnden Armen in einer schwarzen Kunstfaserjacke wartete, sofort Sophies Silhouette. Sie sieht aus wie eine Drogensüchtige, dachte Valérie gleich. Denn sie sah zehn Jahre älter aus, ließ die Schultern hängen, ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Aus ihrem Blick sprach die Not. Valérie hätte am liebsten losgeheult. Sie hat sie in die Arme geschlossen.
    Nun hört sie Sophies langsamen Atem. Ohne sich zu bewegen, versucht sie Sophies Gesicht zu betrachten, aber sie sieht nur ihre Stirn. Am liebsten würde sie sie umdrehen, sie küssen. Sie spürt, wie ihr die Tränen kommen. Sie reißt weit die Augen auf, um dieser so großen Versuchung nicht so leicht zu erliegen.
    Den Großteil des Tages hat sie die Erklärungen, Interpretationen, Hypothesen, Zeichen in ihrem Kopf gewälzt, mit denen Sophie sie in der Nacht zuvor, nach ihrem Wiedersehen, überschüttet hatte. Monatelang hat sie unzählige Anrufe, panische Mails von Sophie bekommen. Monate, in denen sie geglaubt hat, Sophie würde von Wahnsinn umnachtet dahindämmern. Sie weiß, dass auf dem Nachttischchen auf der anderen Bettseite das kleine Passfoto liegt, Sophies kostbarstes Gut, ihre Kriegsbeute. Dabei ist es nichts Großartiges – ein schlechtes Automatenfoto vor dunklem Hintergrund, das, selbst wenn es neu ist, schlampig aussieht, und das einen bedrückt, wenn es aus dem Automaten kommt und man sich sagt, für ein Jahresabonnement »tut’s das«. Aber dann sieht man sich darauf das ganze Jahr, und es macht einen fertig, weil man so hässlich aussieht. Auf dem Bild, das Sophie zum Schutz geduldig mit mehrerenSchichten durchsichtigem Klebeband umwickelt hat, sieht sie ein bisschen dümmlich aus, ihr Lächeln ist gezwungen. Der helle Blitz des Fotoautomaten hat sie blass gemacht wie eine Tote. Doch trotz aller Mängel ist dieses kleine Ding zweifellos das Wertvollste, was Sophie besitzt. Für dieses Foto würde sie ihr Leben geben, wenn sie es nicht bereits getan hätte …
    Valérie stellt sich vor, wie Sophie das Bild findet, sie ahnt, wie bestürzt Sophie ist. Sie sieht vor sich, wie sie es benommen in der Hand dreht und wendet. In diesem Moment ist Sophie zu verwirrt, um zu begreifen; sie hat zehn Stunden am Stück geschlafen, ist zerschlagener erwacht denn je, ihr platzt fast der Schädel. Doch diese Entdeckung hat eine solche Wirkung auf sie, dass sie sich ins Bad schleppt, sich auszieht und in die Badewanne steigt, sie starrt auf den Duschkopf über sich, und nach kurzem Zögern dreht sie brüsk den Kaltwasserhahn auf. Der Schreck fährt ihr so heftig in die Glieder, dass der Schrei in ihrer Kehle erstickt. Sie wäre fast in Ohnmacht gefallen, hält sich an der gekachelten Wand fest, ihre Pupillen weiten sich, aber sie bleibt mit aufgerissenen Augen unter dem Wasserstrahl stehen. Ein paar Minuten später sitzt sie eingemummt in Frantz’ Morgenmantel am Küchentisch, in der Hand eine Tasse heißen Tee, und starrt auf das Foto vor ihr auf dem Tisch. Wie sie die Variablen auch interpretiert, selbst wenn ihr die Migräne gegen die Schläfen hämmert, – das hier ist ganz eindeutig unmöglich. Sie würde sich am liebsten übergeben. Auf einem Zettel hat sie Daten zusammengetragen, hat logische Folgen rekonstruiert, die Ereignisse nachvollzogen. Sie inspiziert das Foto

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