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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Lemaitre
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macht schwungvoll das Tor auf. Den Aufzug nimmt sie nie, also geht sie wie gewöhnlich zu Fuß die Treppe hinauf. Auf ihrer Etage angekommen, holt sie den Schlüssel heraus, schließt auf, öffnet die Tür, schließt wieder ab, dreht sich um. Sophie steht vor ihr, sie trägt dieselben Kleider wie gestern Nacht, als sie kam. Sophie gibt ihr ungeduldig ein Zeichen wie ein nervöser Polizist, der den Verkehr regelt. Genauso weiterleben wie bisher! Valérie hebt die Hand: alles in Ordnung. Sie geht weiter, versucht sich daran zu erinnern, was sie gewöhnlich, unter normalen Umständen, tut. Aber sie ist blockiert. Auf einmal erinnert sie sich an gar nichts mehr. Sophie hat sie zwar die Liste der Handgriffe mehrmals wiederholen lassen, aber nun – nichts mehr. Bleich wie eine Kommunionskerze starrt Valérie Sophie an. Sie kann sich nicht mehr bewegen. Sophie legt ihr die Hände auf die Schultern und drückt sie streng hinunter, damit Valérie sich auf den Stuhl neben der Tür setzt, wo sie normalerweise ihre Tasche abstellt, wenn sie nach Hause kommt. Eine Sekunde später kniet Sophie vor ihr, zieht ihr die Schuhe aus, schlüpft selbst hinein und läuft in der Wohnung umher. Sie geht in die Küche, öffnet und schließt den Kühlschrank, geht zur Toilette und lässt die Tür offen, zieht die Wasserspülung, geht ins Schlafzimmer … Währenddessen kommt Valérie wieder zu sich. Sie ist sauer auf sich selbst. Sie ist dem Ganzen nicht gewachsen. Sophie steht wieder in der Tür. Sie lächelt ihr nervös zu. Valérie schließt die Augen,als wäre sie erleichtert. Als sie die Augen wieder aufschlägt, hält Sophie ihr mit ausgestrecktem Arm das Telefon hin und wirft ihr einen fragenden, besorgten Blick zu. Für Valérie ist das wie eine zweite Chance. Sie wählt eine Nummer und beginnt in der Wohnung auf und ab zu gehen. Vorsicht!, hat Sophie gesagt, nicht übertreiben, nichts ist schlimmer, also sagt sie mit normal fröhlicher Stimme, nein, sie werde heute Abend nicht mehr ausgehen, sie habe Arbeit, sie lacht ein bisschen, lauscht länger als gewöhnlich in den Hörer, dann schmatzt sie Küsschen, ja, ja, ich auch, ich umarme dich, Küsschen, geht ins Bad, wäscht sich die Hände und nimmt dann ihre Kontaktlinsen heraus. Als sie wieder in den Flur kommt, steht Sophie da und drückt das Ohr an die Wohnungstür, Augen geschlossen, konzentrierte Miene, als würde sie beten.
    Wie Sophie verlangt hat, haben sie kein einziges Wort miteinander gewechselt.
    Als sie kam, hat Valérie einen leichten Uringeruch in der Wohnung wahrgenommen. Nun ist der Geruch deutlicher. Beim Wegräumen der Kontaktlinsen bemerkte sie, dass Sophie in die Badewanne gepinkelt hat. Sie macht ihr ein fragendes Zeichen und deutet auf das Badezimmer. Mit einem betrübten Lächeln gibt Sophie kurz ihren Horchposten auf und hebt die Hände in einer Geste der Hilflosigkeit. Sie durfte den ganzen Tag über nicht das leiseste Geräusch verursachen und hat sicherlich keine andere Möglichkeit gesehen. Valérie lächelt auch und macht ein Zeichen, dass Sophie duschen soll.
    Beim Abendessen, das in völligem Schweigen verlief, hat Valérie die umfangreichen Notizen gelesen, die Sophie im Verlaufe des Tages handschriftlich verfasst hatte. Beim Lesen hat sie Sophie hin und wieder mit zweifelndem Blick eineSeite hingehalten. Dann nahm Sophie den Stift und schrieb eifrig ein paar Worte auf. Valérie hat sehr langsam gelesen, immer wieder gedankenverloren den Kopf geschüttelt, so verrückt erschien ihr alles, was sie da las. Sophie hat den Fernseher eingeschaltet. Während er laut lief, konnten sie wieder leise miteinander sprechen. Diese übertriebene Vorsicht kam Valérie ein wenig lächerlich vor. Sophie drückte schweigend ihren Arm und blickte ihr in die Augen. Valérie schluckte. Flüsternd fragte Sophie: »Kannst du mir einen Laptop kaufen, einen ganz kleinen?« Valérie verdrehte die Augen. Was für eine Frage!
    Valérie hat alles Notwendige besorgt, damit Sophie ihre Verbände erneuern konnte, was sie auch mit Sorgfalt tat. Sie wirkte sehr nachdenklich. Sie hob den Kopf und fragte: »Bist du immer noch mit deiner kleinen Apothekerin zusammen?«
    Valérie nickte. Sophie lächelte. »Sie kann dir wohl noch immer nichts abschlagen.«
    Kurz darauf gähnte Sophie, ihr tränten

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