Der kalte Hauch der Nacht - Inpektor Rebus 11
gefahren.«
»Und was machen Sie dann noch hier?« Sie starrte ihn fragend an. »Sie sind doch der Polizist, wenn ich mich recht entsinne?«
»Genau.«
Dann schlurfte sie an ihm vorbei, wobei sie sich immer wieder mit einer Hand an der Wand abstützte. »Ich suche etwas«, sagte sie. »Aber in meinem Schlafzimmer ist es nicht.«
Er konnte durch die offene Tür in ihr Zimmer schauen. Ein einziges Chaos. Überall Kleider – auf dem Boden und auf den Stühlen. Auch die Garderobe und die Schubladen – bis obenhin voll. Überall Bücher und Illustrierte und Bilder, die an den Wänden lehnten. Nahe dem Fenster war oben an der Decke ein großer feuchter Fleck.
Inzwischen hatte sie eine zweite Tür geöffnet. Der gemusterte Teppich in dem Raum war völlig verblasst und an manchen Stellen ganz abgetreten. Rebus folgte ihr. War dies nun ein Wohnzimmer? Oder ein Büro? Mit Erinnerungsstücken und Müll angefüllte Kartons standen herum. Alte Briefe, etliche davon noch ungeöffnet. Fotoalben, aus denen lose Bilder hervorquollen. Noch mehr Illustrierte und Zeitungen, noch mehr Bilder, Spielsachen und Gesellschaftsspiele aus unvordenklichen Zeiten. An einer Wand eine Spiegelsammlung. In der hintersten Ecke ein geflicktes und zerknittertes gelbes Indianerzelt. Eine mit einer Jacke und einem Kilt bekleidete kopflose Puppe lag unter einem Stuhl. Rebus hob sie auf, fand den Kopf, der zusammen mit irgendwelchen Dominosteinen, Spielkarten und leeren Garnrollen in einer offenen Keksdose lag. Er steckte den Kopf wieder auf die Puppe und starrte in ihre leeren blauen Augen.
»Wonach suchen Sie denn eigentlich?«
Sie sah sich um. »Was machen Sie da mit Lornas Puppe?«
»Der Kopf war abgegangen. Ich hab ihn nur…«
»Nein, nein, nein.« Sie riss ihm die Puppe aus der Hand. »Der Kopf ist nicht von alleine abgefallen, den hat die junge Dame höchstpersönlich abgerissen.« Und das Gleiche tat jetzt auch Alicia Grieve. »Sie wollte uns damit zeigen, dass sie kein Kind mehr ist.«
Rebus lächelte. »Wie alt war sie denn damals?« Er dachte, vielleicht neun oder zehn Jahre.
»Ungefähr fünfundzwanzig, sechsundzwanzig.« Sie war jetzt mit ihrer Aufmerksamkeit halb bei ihrem Besucher, halb mit ihrer Suche beschäftigt.
»Und wie fanden Sie es, als sie angefangen hat, als Modell zu arbeiten?«
»Ich habe meine Kinder stets unterstützt.« Klang wie auswendig gelernt, wie ein Standardspruch für Journalisten und Neugierige.
»Und Cammo und Roddy? Waren Sie selbst früher mal politisch engagiert, Mrs. Grieve?«
»In jungen Jahren schon. Meist für Labour. Allan war ein Liberaler, wir haben oft diskutiert…«
»Trotzdem ist einer Ihrer Söhne heute Tory.«
»Ach, Cammo war schon immer schwierig.«
»Und Roddy?«
»Roddy muss noch aus dem Schatten seines Bruders herauswachsen. Sie können sich nicht vorstellen, wie er Cammo bewundert. Ständig beobachtet und studiert er ihn. Aber Cammo hat nun mal seine eigenen Freunde. Mein Gott, wie grausam Jungen in dem Alter sein können.«
Sie hatte ihn schon fast vergessen und war in einer längst vergangenen Zeit versunken.
»Aber die beiden sind doch inzwischen erwachsene Männer, Alicia.«
»Für mich werden sie immer kleine Jungen bleiben.« Sie kramte verschiedene Dinge aus einer Schachtel hervor und inspizierte jedes einzelne Stück – eine Brille, ein Marmeladenglas, einen Fußballwimpel –, als ob sie sich davon eine Offenbarung erhoffte.
»Und – wie ist Ihr Verhältnis zu Roddy?«
»Roddy ist ein ganz Lieber.«
»Spricht er manchmal mit Ihnen über seine Probleme?«
»Er ist doch…« Sie hielt verwirrt inne. »Er ist doch tot.« Rebus nickte. »Ich hab ihn ja immer gewarnt. In seinem Alter über Zäune klettern.« Sie schüttelte den Kopf. »Da muss ja irgendwann was passieren.«
»Hat er das schon öfter gemacht – ist er schon häufiger über Zäune geklettert?«
»Oh, ja. Um den Schulweg abzukürzen, wissen Sie.« Rebus schob die Hände in die Taschen. Sie war jetzt wieder in ihren Gedanken verloren. »In den Fünfzigerjahren habe ich mal mit den Nationalisten geliebäugelt. Komische Leute waren das – mit ihren Kilts und ihrem gälischen Kauderwelsch und mit ihren merkwürdigen Komplexen. Trotzdem: Feiern und tanzen, das konnten sie. Schwert und Schild…«
Auf Rebus' Stirn erschienen ein paar Falten. »Ja, davon hab ich auch schon gehört. War das nicht ein Ableger der Nationalisten?«
»Hat aber nicht lange überlebt – wie die meisten Dinge damals.
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