Der kalte Hauch der Nacht - Inpektor Rebus 11
und warf zuerst einen Blick hinein. Manchmal wurde der Raum nämlich als Abstellkammer benutzt, doch jetzt war er leer: Nur ein Schreibtisch und zwei Stühle. Die Wände waren völlig nackt. Auch ein Aschenbecher oder ein Papierkorb war nirgends zu sehen.
Sithing nahm Platz und sah sich etwas verwundert in dem Zimmer um. Clarke befingerte inzwischen nicht mehr ihre Nase, sondern stützte das Kinn nachdenklich auf eine Hand. Sie war fix und fertig und hatte Kopfschmerzen.
»Wie haben Sie Mr. Mackie kennen gelernt?«
»Reiner Zufall. Ich bin zu der Zeit täglich im Meadows-Park spazieren gegangen.«
»Was heißt das – zu der Zeit?«
»Oh, vor sieben, acht Jahren. Herrlicher Sommertag, deshalb hab ich mich auf eine Bank gesetzt. Und da saß schon jemand
– etwas ungepflegt, na ja, Sie wissen schon, halt ein Obdachloser. Und dann sind wir ins Gespräch gekommen. Ich glaube, ich habe das Eis gebrochen und irgendwas über das Wetter gesagt.«
»Und der andere Herr war Mr. Mackie?«
»Richtig.«
»Wo hat er damals gewohnt?«
Sithing lachte wieder. »Immer noch misstrauisch, meine Beste?« Er fuchtelte mit einem Wurstfinger in der Luft herum. »In einem Heim am Grassmarket. Am nächsten und am übernächsten Tag hab ich ihn dann wieder getroffen. Und so haben wir uns allmählich immer besser kennen gelernt. Jedenfalls haben mir diese Begegnungen sehr viel Spaß gemacht.«
»Und worüber haben Sie gesprochen?«
»Über Politik, das Chaos in der Welt. Außerdem hat er sich für die Geschichte Edinburghs interessiert und für Architektur. Er war jedenfalls total dagegen.«
»Dagegen?«
»Ja, gegen die neuen Gebäude, die in den letzten Jahren hier entstanden sind. Kann sein, dass ihm das alles am Ende zu viel geworden ist.«
»Sie meinen, er hat sich aus Protest gegen die hässliche neue Architektur umgebracht?«
»Verzweiflung kennt viele Ursachen.« In seiner Stimme lag ein gewisser Tadel.
»Tut mir Leid, wenn ich…«
»Ach, überhaupt kein Problem. Sie sind nur übermüdet.«
»Ist das so offensichtlich?«
»Kann sein, dass Chris auch nur müde gewesen ist. Das war es eigentlich, worauf ich hinauswollte.«
»Hat er je von sich erzählt?«
»Ein bisschen. Er hat mir von dem Heim erzählt, von Leuten, die er kannte…«
»Nein, das meine ich nicht, ich meine seine Vergangenheit. Hat er mal davon erzählt, wie er gelebt hat, bevor er obdachlos geworden ist?«
Sithing schüttelte den Kopf. »Er hat gerne zugehört. Besonders fasziniert hat ihn alles, was mit Rosslyn zu tun hat.«
Im ersten Augenblick dachte Clarke, sie hätte ihn missverstanden. »Rosalind?«
»Rosslyn. Die Kapelle.«
Sithing neigte sich auf seinem Stuhl nach vorne. »Ich beschäftige mich schon seit vielen Jahren mit diesem Ort. Schon mal was von den Rittern von Rosslyn gehört?«
Clarke fühlte sich immer unbehaglicher. Sie schüttelte den Kopf. Ihre Augen brannten.
»Aber Sie wissen doch sicher, dass das Geheimnis von Rosslyn sich im Jahr 2000 offenbaren wird?«
»Ist das wieder so eine New-Age-Geschichte?«
Sithing schnaubte unwillig. »Nein, das ist keine neue, sondern vielmehr eine uralte Geschichte.«
»Das heißt, Sie glauben, dass es mit Rosslyn etwas Besonderes auf sich hat?«
»Ja, natürlich. Genau deswegen ist Rudolf Hess doch nach Schottland geflogen. Hitler war ganz wild auf den Gral.«
»Weiß ich. Ich habe Indiana Jones und der letzte Kreuzzug dreimal gesehen. Dann hat Harrison Ford also an der falschen Stelle gesucht?«
»Sie können lachen, so viel Sie wollen«, höhnte Sithing.
»Und das war also das Thema, über das Sie mit Chris Mackie gesprochen haben?«
»Ja, er war ein Gläubiger!« Sithings Hand klatschte auf den Schreibtisch. »Er hat daran geglaubt.«
Clarke erhob sich von ihrem Stuhl. »War Ihnen bekannt, dass er Geld hat?«
»Er hätte gewünscht, dass die Ritter es bekommen.«
»Haben Sie damals schon über ihn Bescheid gewusst?«
»Er hat uns hundert Pfund für unsere Forschungen gespendet. Unter dem Boden der Kapelle, da liegt es begraben.«
»Was?«
»Das Portal! Das große Tor!«
Clarke hielt Sithing die Tür auf. Sie fasste ihn am Arm, der sich weich anfühlte – nur Fleisch und keine Knochen.
»Raus«, befahl sie.
»Das Geld gehört den Rittern! Wir waren seine Familie.«
»Raus.«
Er leistete nur geringen Widerstand. Sie schob ihn in die Drehtür und gab ihm einen Stoß. Draußen drehte er sich noch einmal um und sah sie wütend an. Sein Gesicht war jetzt hochrot. Die
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