Der kalte Hauch der Nacht - Inpektor Rebus 11
richtig ernst ist es mir damals nicht gewesen.«
Natürlich war Clarke sich darüber im Klaren, dass viele Ob
dachlose psychisch krank waren. Plötzlich fiel ihr ein: Konnte
sie Dezzi überhaupt über den Weg trauen?
»Und wann haben Sie Mackie zuletzt gesehen?«
»Dürfte erst 'n paar Wochen her sein.«
»Und was für einen Eindruck hatten Sie von ihm?«
»Nichts Besonderes.« Sie schob sich den Rest ihres Krapfens in den Mund. Spülte mit Tee nach und widmete sich dann wieder ihrer Zigarette.
»Dezzi, haben Sie ihn wirklich gekannt?«
»Was?«
»Jedenfalls haben Sie mir bisher noch nichts von ihm erzählt.«
Dezzi stand auf. Clarke befürchtete schon, dass sie einfach weggehen würde. »Wenn er Ihnen was bedeutet hat«, sagte sie, »dann helfen Sie mir, ihn besser zu verstehen.«
»Niemand hat Mackie gekannt, jedenfalls nicht richtig. Zu viele Barrieren.«
»Und – sind Sie an ihn herangekommen?«
»Glaub ich nicht. Hat mir zwar 'n paar Geschichten erzählt …, aber mehr nicht.«
»Was für Geschichten?«
»Ach, wo er überall gewesen ist – Amerika, Singapur, Australien. Ich dachte schon, dass er vielleicht bei der Marine war oder so was, aber er hat nein gesagt.«
»Hatte er eine gute Erziehung?«
»Er wusste 'ne ganze Menge. Ich bin sicher, dass er in Amerika war, das andere weiß ich nicht so genau. Aber London kannte er jedenfalls – all die Sehenswürdigkeiten und die U-Bahn-Stationen. Als ich ihn das erste Mal gesehen habe…«
»Ja?« Clarke zitterte vor Kälte, ihre Zehen waren schon ganz taub.
»Ich weiß nicht. Aber ich hatte irgendwie das Gefühl, dass er bloß auf der Durchreise ist. Als ob er noch andere Möglichkeiten hätte.«
»Trotzdem ist er hier geblieben?«
»Ja.«
»Glauben Sie, dass er freiwillig obdachlos war, also nicht aus Not?«
»Kann schon sein.« Dezzis Augen wurden etwas größer.
»Was ist los?«
»Ich kann sogar beweisen, dass ich ihn gekannt habe.«
»Wieso?«
»Er hat mir was geschenkt.«
»Was geschenkt?«
»Allerdings konnte ich nicht viel damit anfangen, deshalb…, also deshalb hab ich's weggegeben.«
»Weggegeben?«
»Na ja, ich hab's halt verkloppt, in einem Second-Hand-La-den in der Nicolson Street.«
»Und was war es?«
»So 'ne Art Aktentasche. Passte zwar nicht viel rein, aber war aus Leder.«
Mackie hatte sein Geld in einer Aktentasche bei der Bausparkasse abgeliefert. »Die dürfte lange weg sein«, sagte Clarke.
Dezzi schüttelte den Kopf. »Der Chef von dem Laden hat sie noch. Ich hab ihn damit auf der Straße gesehen. Ja, echtes Leder, und der Scheißkerl hat mir nur fünf Piepen dafür gegeben.«
Vom Hunter Square zur Nicolson Street waren es nur ein paar Schritte. Der Laden war eine wahre Fundgrube. Er war bis obenhin voll gestopft: Bücher, Kassetten, Stereoanlagen, Töpferwaren. Dazwischen ein paar enge Gänge. Ein Staubsauger war mit einer Federboa geschmückt. Auf dem Boden lagen stapelweise Spielkarten und alte Comics. Außerdem gab es Elektrogeräte, Brettspiele und Puzzles, Töpfe, Pfannen, Gitarren, Musiktruhen. Der Besitzer des Ladens war ein Asiate. Offenbar erkannte er Dezzi nicht wieder. Clarke präsentierte ihm ihre Dienstmarke und bat ihn, ihr die Aktentasche zu zeigen.
»Fünf elende Piepen hat er mir dafür gegeben«, nörgelte Dezzi. »Echtes Leder.«
Der Mann sträubte sich zunächst, bis Clarke ihn daraufhinwies, dass das Revier in der St. Leonard's Street gleich um die Ecke war. Schließlich langte er unter seinen Ladentisch und zog eine abgenutzte Aktentasche hervor. Clarke bat ihn, sie zu öffnen. In der Tasche steckten eine Zeitung, ein Essenspaket und eine dicke Rolle Banknoten. Als Dezzi sich die Sache näher anschauen wollte, klappte er die Tasche wieder zu.
»Zufrieden?«, sagte er.
Clarke wies auf eine Ecke der Tasche, wo sie besonders zerkratzt war.
»Wie ist das passiert?«
»Ich hab versucht, die Initialen zu entfernen.«
Clarke sah sich die Tasche näher an. Vielleicht erkennt Valerie Briggs die Tasche ja wieder, dachte sie. »Können Sie sich noch an die Initialen erinnern?«, fragte sie Dezzi.
Dezzi schüttelte den Kopf und inspizierte die beschädigte Stelle ganz genau.
Das schlechte Licht in dem Laden erschwerte es Clarke noch zusätzlich, die zerkratzten Initialen zu entziffern.
»ADC vielleicht«, sagte sie.
»Könnte sein«, sagte der Ladenbesitzer. Dann zeigte er mit dem Finger auf Dezzi. »Aber ich hab Ihnen einen fairen Preis gezahlt.«
»Bestohlen hast du mich, du
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