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Der Kalte Krieg 1947-1991 - Geschichte eines radikalen Zeitalters

Der Kalte Krieg 1947-1991 - Geschichte eines radikalen Zeitalters

Titel: Der Kalte Krieg 1947-1991 - Geschichte eines radikalen Zeitalters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Stöver
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2,7 Millionen. Trotz immer weiter verstärkter Grenzanlagen zogen es zwischen September 1961 und dem Fall der Mauer 1989 weitere 960 000 Menschen vor, dem ostdeutschen «Fürsorgestaat» den Rücken zu kehren und in Westdeutschland ein neues Leben anzufangen. Hauptgründe waren die Hoffnung auf ein materiell besseres Leben sowie der Wunsch, der umfassenden Gängelung durch den sozialistischen Staat zu entkommen.
    In der anderen Richtung dagegen war die Zahl der Menschen, die von der Bundesrepublik in die DDR übersiedelten, ungleich geringer. Sie betrug zwischen 1950 und 1989 nach offiziellen westlichen Zählungen rund 475 000 Menschen. 19 Neuere Berechnungen gehen von etwa 650 000 Übersiedlern aus. Auch hier machten Befragungen durch west- und ostdeutsche Stellen die Motive offensichtlich. 20 In Westdeutschland hatten den Übersiedlern, von denen die Mehrzahl Arbeiter waren, häufig die Sicherheit des Arbeitsplatzes sowie die soziale Bindung und «Nestwärme» gefehlt. Von vielen war auch der «unkameradschaftliche» Konkurrenzdruck als zu hoch empfunden worden. Bei jugendlichen Übersiedlern stand die von der SED gegebene Ausbildungsgarantie an erster Stelle. Obwohl die Migration in die DDR vorwiegend Männer betraf, war auch eine geschlechtsspezifische Attraktivität nachweisbar. Die propagierte Gleichberechtigung in den Berufen, aber auch die institutionalisierte Betreuung von Kindern verstanden weibliche Übersiedler als besonders anziehend. Befürchtungen vor den Zumutungen der SED-Diktatur traten in dieser Gruppe eindeutig zurück. Aber auch politische Motive wie der von der SED in den Mittelpunkt gerückte Antifaschismus spielten eine völlig untergeordnete Rolle. Ins «politische Exil» in der DDR begab sich nur eine verschwindende Minderheit. Insgesamt war aus der Sicht der Übersiedler die DDR in erster Linie ein deutlich fürsorglicherer Staat als die Bundesrepublik. Die Grenzen der Zuwanderung und damit auch die Grenzen der DDR-Ma-gnettheorie bildeten die schließlich doch als unzumutbar empfundenen Verschärfungen der Diktatur. Die höchsten Einwanderungszahlen gab es zwischen 1954 und 1957 mit etwa 300 000 Übersiedlern. Intensive Werbung der SED nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 und die Entstalinisierung 1956 ließen in diesen Jahren die Erwartungen eines «normalen Lebens» in der DDR steigen. Schlagartig brach die Zuwanderung Ende Dezember 1957 mit dem berüchtigten Paßänderungsgesetz, das den Versuch, die DDR zu verlassen, mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestrafte, und der darauffolgenden Zweiten Berlinkrise ein. Als Rückwanderungen in die Bundesrepublik, die schon zwischen 1949 und 1961 immer rund vierzig Prozent umfaßt hatten, mit dem Mauerbau fast unmöglich wurden, verringerte sich die Zuwanderung nach Ostdeutschland nochmals. Im gesamten Zeitraum zwischen 1961 und 1989 stellten nach offizieller Zählung nur rund 75 000 Menschen einen Antrag, aus dem Westen in die DDR überzusiedeln. 21
    Auch die anderen Staaten des Ostblocks betrieben eine vergleichbar ehrgeizige Sozialpolitik, die allerdings ebenso kontinuierlich über die ökonomische Leistungsfähigkeit hinausging. 22 Es war aber insgesamt wohl weniger die soziale Praxis in den «Fürsorgestaaten» als vielmehr die generell im Westen empfündene politische Konkurrenz zum Kommunismus im Kalten Krieg, die dafür sorgte, daß auch im Westen die Sozialpolitik weiter ausgebaut wurde. In Frankreich, Schweden, Großbritannien und nicht zuletzt in der Bundesrepublik wuchs der Sozialstaat niemals so stark wie in der Epoche des Kalten Krieges, wenngleich der Kostendruck bereits im letzten Jahrzehnt des Konflikts dazu führte, daß er teilweise wieder eingeschränkt wurde. Nun kann man sicherlich nicht alle Erweiterungen der westlichen Sozialsysteme der globalen Systemkonkurrenz zuschreiben. In den genannten Staaten wirkten natürlich auch die nationalen Traditionen. Trotzdem lassen sich einschlägige Beispiele nennen, wie die Konkurrenz zwischen den Systemen zur Ausweitung des Sozialstaats führte. Eines dieser häufig genannten Beispiele ist die Einführung der sogenannten «Dynamischen Rente», die Adenauer kurz vor den Bundestagswahlen 1957 gegen heftige Widerstände, unter anderem der Bundesbank, einführen ließ. Sie beruhte auf der Koppelung der Rentenhöhe an das durchschnittliche Wachstum des Bruttoeinkommens aller Erwerbstätigen und führte aufgrund der guten Wirtschaftslage der fünfziger Jahre sofort zu einer deutlichen Erhöhung

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