Der Kalte Krieg 1947-1991 - Geschichte eines radikalen Zeitalters
die wirkliche Stimmung in der Bevölkerung wurde nicht diskutiert.» 27
Versucht man den Wandel der öffentlichen Meinung am Ende des Kalten Krieges zu verfolgen, so zeigt sich, daß insbesondere die Friedensbewegung, vor allem in Westeuropa, in eine neue Rolle hineinwuchs. Der NATO-Nachrüstungsbeschluß 1979 führte hier fast schlagartig zu einer von vielen Gesellschaftsgruppen getragenen Massenbewegung. Ihr gelang es, anders als in den fünfziger Jahren, sich nachhaltig auch in die parlamentarische Debatte einzuschalten. In der Bundesrepublik war es die 1978 gegründete Partei «Die Grünen», die zum wichtigsten parlamentarischen Sammelbecken wurde. In der Wahrnehmung der Friedensbewegung erhöhten insbesondere die «Nachrüstung» und die wenige Jahre später folgende amerikanische Ankündigung einer Strategischen Verteidigungsinitiative die Gefahr eines atomaren Krieges. Wie quer die politischen Fronten verliefen, zeigte sich darin, daß Helmut Schmidts Einsatz für die Nachrüstung und den Doppelbeschluß seit 1977 auch in der eigenen Partei hoch umstritten war. Die SPD wurde durch ihn zumindest teilweise gespalten, und auch in den Gewerkschaften sowie in den Kirchen wuchs in den achtziger Jahren erneut der Widerstand gegen die Bündnis- und Militärpolitik der Bundesregierung. Während innerhalb der SPD kurz nach Schmidts Londoner Rede 1977 eine Initiative entstand, die ihn aufforderte, durch politische Verhandlungen die Einführung neuer Waffen überflüssig zu machen, erhielt er Zustimmung aus der CDU. Die christdemokratische Opposition verabschiedete 1977 sogar eine Unterstützungsresolution für die Stationierungsvorschläge des sozialdemokratischen Regierungschefs. Allerdings steigerte sich der Protest erst nach dem konservativen Regierungswechsel 1982 wirklich dramatisch und erhielt von nun an ständig neue Nahrung.
Die Frage, warum die siebziger Jahre die Voraussetzungen boten, die Friedensbewegung politisch um so vieles stärker zu machen als in den fünfziger Jahren, ist oft gestellt worden. Kritik an den Mechanismen und den militärischen Szenarien des Kalten Krieges hatte es auch vorher gegeben. Vor allem zwei Aspekte wa-
der kalte krieg und die öffentliche Meinung im westen Massendemonstrationen der westdeutschen Friedensbewegung gegen die «Nachrüstung». Das Bild zeigt die von mindestens 300 000 Personen besuchte Veranstaltung im Bonner Hofgarten im Oktober 1981.
ren neu. Zum einen hatte der für die USA desaströse Verlauf des Krieges in Südostasien nicht nur ganz allgemein die Stimmung gegen militärische Optionen verstärkt. In den USA warfen selbst hochdekorierte Veteranen des Vietnamkrieges auf Kundgebungen demonstrativ ihre Auszeichnungen in den Schmutz. Wehrdienstverweigerer verbrannten öffentlich ihre Einberufungsbescheide. Auch in der Bundesrepublik wurde Vietnam zum Signum für die Ungerechtigkeiten des Kalten Krieges, in dem die Dritte Welt den Preis zu zahlen hatte. Während bis 1967 in Westdeutschland nur knapp 6000 Männer den Dienst mit der Waffe verweigert hatten, stieg die Zahl ein Jahr später sprunghaft an. 1968 gab es in der Bundesrepublik erstmals fast 12 000 Wehrdienstverweigerer - ein absolutes Novum in der Geschichte der Bundeswehr. Die Zahl der Anträge kletterte bis 1975 auf fast das Dreifache und erreichte 1977, als die mündliche Verhandlung zur Gewissensprüfung mit dem Gesetz zur Änderung des Wehrpflicht- und Zivildienstgesetzes für ein halbes Jahr abgeschafft wurde, das Sechsfache. 28 Nach einer von der Bundeswehr veröffentlichten repräsentativen Umfrage waren Mitte 1973 nur noch die Hälfte aller Bundesbürger davon überzeugt, daß die Streitkräfte «in der heutigen Weltlage» eine «wichtige» bzw. «sehr wichtige» Rolle spielen. 29 Die Ablehnung der Bundeswehr zeigte sich überdies in einem deutlichen Rückgang der Offiziersbewerber und - ein weiteres Novum - in der Entstehung einer Friedensbewegung innerhalb der Streitkräfte. Die sogenannte Friedensforschung wuchs in Westdeutschland in den siebziger und achtziger Jahren sogar zu einer neuen wissenschaftlichen Disziplin heran, die schließlich auch ehemalige Militärs anzog. Einige hochrangige Offiziere, wie Alfred Mech-tersheimer oder Gert Bastian wurden in den achtziger Jahren zu wichtigen Aushängeschildern der Friedensbewegung.
Der Unterschied zu früheren Friedensbewegungen war zum anderen, daß der gesellschaftliche Umbruch von «1968» ganz allgemein die Akzeptanz und den Zulauf zu
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